14. Deutscher interdisziplinärer Schmerzkongress, Frankfurt/M.

Praxis-Depesche 13/2001

Schmerz im Alter: Unterversorgung

Alte Menschen nehmen Schmerzen stärker wahr als junge. Aufgrund des gefestigten Schmerz-Engrammes ist bei akutem Schmerz eine länger dauernde Therapie notwendig. Dennoch sind alte Patienten unterversorgt und erhalten oft wenig wirksame Analgetika.

Beim Einsatz der stark wirkenden Opioide halten sich die deutschen Ärzte zum Nachteil der Patienten stark zurück: Nur neun von zehn Patienten, die eine entsprechende Therapie benötigen, erhalten sie auch - obwohl eine Toleranzentwicklung bei sachgerechter Anwendung und Dosierung retardierter Präparate eindeutig widerlegt ist, so Dr. G. Müller-Schwefe, der Tagungsleiter. Speziell die Diskussion um die aktive Sterbehilfe ist ein Armutszeugnis für die Schmerztherapie. Das Argument "Lieber aktiv sterben helfen als mit Leiden weiterleben lassen" zeugt von ungenügenden Kenntnissen in der Schmerzlinderung. Müller-Schwefe forderte eine adäquate Schmerztherapie in Alten- und Pflegeheimen - auch bei Sterbenden. Nach den Erfahrungen des Palliativmediziners Prof. S. Husebö aus Norwegen benötigen über 80% der Patienten in ihrer letzten Lebensphase Opioide - rund 55% zur Therapie der Dyspnoe aufgrund der terminalen Herzschwäche und knapp 30% aufgrund von Schmerzen. "Der Standard eines Pflegeheims kann also am Opioidverbrauch gemessen werden." Idealerweise sollten Ärzte und Pflegepersonal speziell geschult sein; für Schwerkranke und sterbende Patienten sollte standardmässig die palliative Behandlung innerhalb von 24 Stunden anlaufen. Dazu gehören für Husebö in allererster Linie eine kompetente Schmerztherapie und Symptomkontrolle, wobei er folgende vier Medikamente - alle auch subkutan oder transdermal zu applizieren - für ausreichend einstuft: Morphin gegen Schmerzen und Todesrasseln, Scopolamin gegen Todesrasseln, Sekret oder Ileus, Haloperidol bei Übelkeit und Delir sowie Midazolam bei Panik, Angst und Unruhe. Nicht nur Sterbende, auch ältere Patienten mit akuten oder chronischen Schmerzen müssen unnötig leiden - aus Unkenntnis, falschen Ängsten vor Nebenwirkungen, offensichtlich aber auch aus Budgetgründen. Zäh halten sich laut Müller-Schwefe Vorurteile wie "das Alter ist ein Analgetikum" und Mythen wie "Opiode führen zur Toleranzentwicklung und Atemdepression". Von den verschriebenen Arzneimitteln entfallen zwar 40% auf Patienten über 65 Jahre; der Anteil an Schmerzmitteln hieran liegt jedoch deutlich unter demjenigen jüngerer Patientengruppen. Dabei leidet fast die Hälfte der über 75-Jährigen an chronischen Schmerzen, die aufgrund des Schmerzgedächtnisses intensiver erlebt werden. Für eine "Löschung" dieses Engrammes ist eine länger dauernde Therapie notwendig. Das gilt auch für akute Schmerzen: Während bei unter 40-Jährigen eine sechstägige Therapie ausreicht, sind bei 60- bis 80-Jährigen 18 Tage und bei über 80-Jährigen 27 Tage erforderlich, wie eine Multicenterstudie bei rund 8000 Patienten mit Muskel-Skelett-Schmerzen ergab. Ältere Patienten erhalten darüber hinaus oft ungeeignete Analgetika, wie eine Studie in 400 Praxen mit über 43 000 Patienten im Alter von über 70 Jahren ausweist: Trotz Schmerzen überwiegend nicht-entzündlicher Natur erhält der Großteil (78%) nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR). Angesichts des erhöhten Risikos für Magen-Darm-Blutungen "ohne Vorwarnung" und einer geschätzten Zahl von jährlich 3000 resultierenden Todesfällen sprachen sich die Experten dafür aus, speziell bei Älteren eine Schmerzanamnese zu erheben und die Therapie nach der Intensität der Schmerzen auszurichten. Bei chronischen Prozessen mit entsprechender Intensität sehen Müller-Schwefe und PD Dr. R. Hardt, Trier, bei Älteren keinen zwingenden Grund für einen Therapiebeginn auf Stufe I des WHO-Schemas. Beide halten einen Therapieversuch mit Opioiden der Stufe II für gerechtfertigt und empfehlen dabei retardierte, niedrigpotente Substanzen mit schneller und langanhaltendender Wirkung. Diese Stufe sollte jedoch aufgrund der verstärkten emetogenen Wirkung bei Älteren nicht bis zur Maximaldosierung ausgereizt werden. Dass Opioide zwar die Schmerzempfindung, nicht aber - wie oft befürchtet - Aufmerksamkeit oder Konzentrationsfähigkeit vermindern, ist inzwischen sogar durch die modernen bildgebenden Verfahren zu belegen. Prof. B. Bromm, Hamburg, belegte mit Hilfe der Methode der Magnetoenzephalographie, dass zwar die "emotional-aversive" Schmerzkomponente (die "Qual") in limbischen Strukturen der Hirnrinde durch Morphin stark abgeschwächt wird, die "rational-diskriminative" jedoch - anders als unter Sedativa - nur wenig verändert wird. Da ältere Menschen zu einem "Underreporting" neigten und eher über die Folgen des Schmerzes im Alltagsleben berichten, ist der Arzt gefordert, die richtigen Fragen zu stellen. Diese sollten unbedingt auch auf seelische Veränderungen wie Traurigkeit und Ängste abzielen, da Depression und Angst oft Hand in Hand mit Schmerzen gehen - was wiederum den Umgang mit Schmerz erschwert, wie Prof. H.-G. Nehen, Essen, betonte. Kompetente Schmerztherapie ist bei diesen Menschen der erste Schritt, die Abwärtsspirale aus Schmerz, Isolation und Depression anzuhalten oder zurückzudrehen. Denn die medikamentöse Therapie ist bei chronischen Schmerzpatienten eine tragende Säule der Behandlung, erlaubt sie doch vielfach erst aktivierende Verfahren, durch die der Patient wieder mobil wird und den Alltag besser bewältigen kann.

Alle im Rahmen dieses Internet-Angebots veröffentlichten Artikel sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch Übersetzungen und Zweitveröffentlichungen, vorbehalten. Jegliche Vervielfältigung, Verlinkung oder Weiterverbreitung in jedem Medium als Ganzes oder in Teilen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlags.

x