S3-Leitlinie der DGVS und DGNM

Praxis-Depesche 11/2021

Aktualisierte Leitlinie Reizdarmsyndrom: Hintergründe und Neuerungen

Die ärztliche Behandlungsleitlinie zum Reizdarmsyndrom wurde überarbeitet. Diese Version ist nun veröffentlicht worden. Prof. Martin Storr, Starnberg, gibt hier einen Überblick.
Hintergrund
Das Reizdarmsyndrom (RDS) ist eine häufige Erkrankung. 10 bis 15 % der Bevölkerung sind davon betroffen. Bei Frauen tritt das RDS häufiger auf. Reizdarmbeschwerden treten in allen Altersgruppen auf, zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr ist das Auftreten am häufigsten. Patienten mit einem RDS erfahren im Vergleich zur Normalpopulation eine deutliche Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität, die über die Einschränkungen bei anderen chronischen Erkrankungen hinausgehen kann. Das RDS verursacht dadurch erhebliche direkte Kosten (Arztbesuche, Medikamente, Diagnostik, Krankenhausaufenthalte, Begleiterkrankungen) und indirekte Kosten (insbesondere Arbeitsausfälle und verminderte Produktivität während der Arbeit).
 
Symptome
Hauptsymptome des RDS sind Bauchschmerzen und Blähbauchbeschwerden, oft in Kombination mit Stuhlgangsveränderungen (Durchfall, Verstopfung, Wechsel von beidem).
 
Ursachen und Auslöser
Es gibt keinen einzelnen verantwortlichen Auslöser. Das RDS wird durch ein Zusammenkommen verschiedener Ursachen hervorgerufen. Ernährungsfaktoren, Medikamenteneinnahmen (Antibiotika und andere), Umweltfaktoren, Infektionen, Mikrobiomveränderungen, Lebensstilfaktoren und Stress sind einige der wichtigsten Einflussfaktoren.
Das RDS kann mit organischen, zellulären, molekularen und/oder genetischen Veränderungen auf allen Ebenen der Darm-Hirn-Achse assoziiert sein. Diese zentrale Bedeutung der Darm-Hirn-Achse ist neu und hat therapeutische Relevanz. Pathophysiologisch wichtige Faktoren sind Veränderungen der Motorik (Motilitätsstörung) sowie Störungen im Gallensäuremetabolismus, in der Schmerzwahrnehmung (viszerale Hypersensitivität) und in der Schmerzverarbeitung (zentrale Signalverarbeitung). Ein weiterer Aspekt ist eine Funktionsstörung der Darmbarriere (Permeabilitätsstörung). Diese klare Benennung der erhöhten Durchlässigkeit der Darmbarriere als ein wichtiger ursächlichen Faktor in der Krankheitsentstehung ist neu. In der Laienkommunikation wird hierfür oftmals der Begriff „Leaky Gut“ verwendet. Im Vergleich zu gesunden Vergleichspersonen können vom Reizdarm Betroffene „normale“ viszerale Stimuli verstärkt wahrnehmen und dieses bewerten sie als sehr unangenehm oder als Symptome einer potenziell bedrohlichen Erkrankung. Diese verstärkte Wahrnehmung wird viszerale Hypersensitivität genannt und ist therapeutisch bedeutend. Auch erlerntes Krankheitsverhalten (learned illness behavior) spielt bei vielen Reizdarmpatienten eine wichtige Rolle; dies erklärt sich mit dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell. Psychischer Stress sowie Angst- und depressive Störungen können im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells an der Entstehung und Aufrechterhaltung des RDS beteiligt sein. Symptome der Angst oder Depression können aber auch sekundär als Folge der Belastung, durch die chronischen gastrointestinalen Beschwerden, auftreten
 
Diagnostik
Die Diagnose eines RDS erfolgt durch einen Arzt, durch symptomabhängig gezielten Ausschluss anderer Erkrankungen, und folgt dabei einem klaren Algorithmus. Dabei sollte die Diagnosestellung frühzeitig im Krankheitsverlauf erfolgen. Dafür werden insbesondere Krankheiten ausgeschlossen, die sich mit ähnlicher Symptomatik wie ein RDS manifestieren können. Eine ergänzende mikrobielle Analytik der kommensalen Mikrobiota im Darm sollte nicht erfolgen, da sich hieraus im Moment keine medizinisch begründete diagnostische oder therapeutische Aussage ableiten lässt. Ebenso nicht erfolgen sollten die wissenschaftlich nicht etablierten Immunglobulin- G(IgG)-basierten Tests für Nahrungsmittelunverträglichkeiten.
Bei Hinweisen auf eine Nahrungsmittelunverträglichkeit sollte zur Identifizierung der Symptomauslöser ein fachlich fundiertes Ernährungs-Symptom-Tagebuch geführt werden. Kohlenhydratmalabsorptionen, Nahrungsmittelallergien, weizenabhängige Erkrankungen (Zöliakie, Weizenallergie, Weizensensitivität) und Histaminintoleranz sind hierbei zu bedenken. Die klare Benennung der medizinischen Relevanz von Weizensensitivität/Glutensensitivität und der Histaminintoleranz sind neu.
Diagnostik und Therapie werden vom Hausarzt orchestriert, der je nach Notwendigkeit Fachärzte zur Diagnostik (Gastroenterologie, Gynäkologie etc.) hinzuzieht. Die langfristige Betreuung von schwereren Verläufen eines RDS kann – in Abhängigkeit von Patientenwünschen, regionaler Verfügbarkeit sowie ärztlicher Expertise und zeitlichen Ressourcen – von Hausärzten, Gastroenterologen, Ernährungsspezialisten und Psychosomatikern durchgeführt werden.
 
Therapie
Vor einer Therapieeinleitung sollten realistische Therapieziele besprochen werden, denn auch eine normale Verdauung ist in gewissen Grenzen spürbar. Es sollte dabei auch über den Zusammenhang zwischen Stress bzw. Emotionen und somatischer Symptomatik informiert werden. In der Therapie werden nicht medikamentöse, symptomunabhängige Basismaßnahmen benannt, die allen Patienten angeboten werden. Zu diesen Basismaßnahmen gehören die ausführliche Information über das Krankheitsbild, Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, konsequente Ernährungsumstellung, Steigerung der körperlichen Betätigung (Sport, Reizdarmyoga), achtsamkeitsbasierte Stressreduktion für den Reizdarm (mindfulness- based stress reduction, MBSR; Mindful Darm) und entspannende sowie hypnotherapeutische Verfahren (bauchgerichtete Hypnose / Darmhypnose). Neu ist, dass diese Maßnahmen aufgrund ihrer Wirksamkeit bei passender Indikation empfohlen werden sollten. Ergänzend können viszerale Osteopathie und Darmmassage angeboten werden; Homöopathie und Darmspülungen werden hingegen nicht empfohlen. Bei Bauchschmerzen, Blähungen und Diarrhö sollte und bei Verstopfung kann eine FODMAP( fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide und Polyole)- Diät empfohlen werden. Die Benennung der FODMAP-reduzierten Ernährung, die in der Basistherapie angewendet werden sollte, ist neu. Andere Diäten sollten nur bei klinischem Verdacht und nach Rücksprache mit einem Arzt zum Einsatz kommen. Stark einschränkende Diäten, unnötige Eliminationsdiäten sowie langfristige Ernährungseinschränkungen ohne spürbare Besserung sollten nicht empfohlen werden. Ergänzend sollten psychosomatische/ psychotherapeutische Angebote gemacht werden. Lösliche Ballaststoffe vom Flohsamentyp können als Stuhlregulans der Basistherapie beim Diarrhöoder Verstopfungstyp angeboten werden; auf Blähungen als mögliche Nebenwirkung ist hierbei zu achten. Die deutliche Herausstellung der Basismaßnahmen als Therapieverfahren die zunächst jedem, vor medikamentösen Maßnahmen, angeboten werden sollten, ist neu.
Erst wenn diese Basismaßnahmen, die sich am besten mit dem Begriff Reizdarmprogramm zusammenfassen lassen, trotz ausreichend langer und konsequenter Anwendung nicht ausreichen (4–6 Wochen) können in der speziellen Therapie bei schweren Verlaufsformen zusätzlich Präparate oder Medikamente zur gezielten symptomatischen Behandlung von Beschwerden eingesetzt werden. Bei unzureichendem Therapieerfolg kann es erforderlich sein, sukzessiv unterschiedliche Medikamente, bei Teilerfolgen auch als Kombinationstherapien, einzusetzen. Aufgrund der Heterogenität des RDS gibt es keine medikamentöse Standardtherapie. Deswegen hat jede Therapie zunächst probatorischen Charakter. Deren Dauer sollte a priori mit dem Patienten besprochen werden. Ein medikamentöser Therapieversuch ohne Ansprechen sollte nach spätestens drei Monaten beendet werden. Diese klare Benennung einer nicht vorhandenen medikamentösen Standardtherapie und der Hinweis auf medikamentöse Kombinationstherapien ist neu. Die Auswahl der möglichen Präparate und Wirkstoffe trifft dabei ein Arzt. Hierbei ist das führende Symptom ausschlaggebend. Neue Präparate, die in Deutschland speziell zur Behandlung des RDS zugelassen sind, werden keine benannt. Die beschriebenen medikamentösen Neuheiten beziehen sich entweder auf das Ausland (Internationale Apotheke) oder den Off-Label-Einsatz. Neben chemisch definierten Wirkstoffen kommen auch Phytotherapeutika, Präbiotika und Probiotika zum Einsatz. Neu ist, dass ausgewählte Probiotika in der Behandlung des RDS eingesetzt werden sollten, der Einsatz erfolgt aber immer probatorisch. Hierbei handelt es sich aber nicht um einen ungezielten oder pauschalen Ansatz, vielmehr kann die Wahl des Stammes nach der Symptomatik erfolgen.
 
Fazit
In der Zusammenschau ist an der revidierten Leitlinie vor allem die ganzheitliche bzw. integrative Herangehensweise an das Krankheitsbild neu – und dies entspricht auch dem Patientenwunsch. Vor allem die Betonung der symptomunabhängi- gen Basistherapien entspricht dem aktuellen Wissensstand. Die klare Aufteilung in eine selbstbestimmte und aktive Basistherapie, die für alle Betroffenen günstig ist, und in eine für schwere Fälle vorbehaltene ergänzende medikamentöse Therapie ist als neu anzusehen. GFI
 
Der Autor Prof. Martin Storr ist Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie am Zentrum für Endoskopie in Starnberg. Er ist Co-Autor zahlreicher nationaler und internationaler Behandlungsleitlinien.
Quelle:

Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten e. V. (DGVS) und Deutsche Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität e. V. (DGNM): Update S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms, Stand 31.3.2021. AWMF-Registriernummer: 021/016

Link zur neuen Leitlinie: https://www.awmf.org/

ICD-Codes: K58.9

Alle im Rahmen dieses Internet-Angebots veröffentlichten Artikel sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch Übersetzungen und Zweitveröffentlichungen, vorbehalten. Jegliche Vervielfältigung, Verlinkung oder Weiterverbreitung in jedem Medium als Ganzes oder in Teilen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlags.

x