Beim Umgang mit Schmerzpatienten beachten

Praxis-Depesche 5/2017

Angst- und Schmerzempfinden stumpfen ab

Als Arzt muss man sich häufig mit den Schmerzen anderer auseinandersetzen. Für die optimale Versorgung ist es dabei wichtig, die vom Patienten empfundene Schmerzintensität möglichst akkurat einschätzen zu können. Je häufiger man aber mit Schmerzpatienten in Kontakt kommt, desto schwieriger ist es, den Schmerz nicht zu unterschätzen!

Mit zwei Experimenten versuchten Forscher zu entschlüsseln, ob man den Schmerzzustand einer anderen Person tatsächlich als geringer einstuft, wenn man zuvor mit unterschiedlichen Schmerzszenarios konfrontiert worden war. Für das erste Experiment verwendete man eine Reihe etwa fünfsekündiger Videoclips von Patienten, deren Bewegungsumfang an den Schultern geprüft wurde und die dabei keine oder starke Schmerzen empfanden. Ausschlaggebend war dabei ihr Gesichtsausdruck, gemessen am Index of Facial Expression (IFPE, Punktbereich 0 bis 16). 45 Minuten bekamen jeweils 14 gesunde Freiwillige entweder nur Videos von schmerzfreien Patienten zu sehen (IFPE 0) oder aber Videos von Patienten mit deutlich schmerzverzerrten Gesichtern (IFPE ≥10). Nach jedem Clip wurden in beiden Gruppen in randomisierter Reihenfolge zwei Sekunden lang Bilder von Patienten mit neutralem, mäßig oder stark schmerzverzerrtem Gesicht eingeblendet. Auf diesen Bildern sollte man die Schmerzintensität mittels VAS einschätzen.
Wie es bereits vorherige Studien vermuten ließen, schätzten Versuchspersonen, die zuvor Videos mit schmerzleidenden Patienten gesehen hatten, die Schmerzintensität auf den nachfolgenden Bildern als geringer ein als die Kontrollgruppe. Um herauszufinden, ob auch die Konfrontation mit anderen negativen Gefühlen die Bewertung von Schmerzen derart verändern kann, wiederholte man das Experiment mit 50 anderen freiwilligen Teilnehmern. Ihnen zeigte man erneut Videoclips von Patienten mit neutralem oder schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck (jeweils n=17) und zusätzlich einer dritten Gruppe Videoclips von Personen mit angstverzerrten Gesichtern (n=16). Erneut bewerteten die Teilnehmer nach dem Ansehen der schmerzverzerrten Gesichter die Schmerzintensität der Testbilder als geringer als die Kontrollgruppe. Gleiches galt aber auch für die Teilnehmer, welchen angstverzerrte Gesichter gezeigt wurden. Allerdings unterschied sich das Bewerten der Schmerzen nach den Angst-Videos nicht signifikant von der Einschätzung der Kontrollgruppe.
In beiden Versuchen konnte folglich gezeigt werden, dass das wiederholte Erleben von Schmerzen anderer die nachfolgende Einschätzung der Schmerzstärke tatsächlich beeinflussen kann. Ein Angst-Anblick scheint dabei zu einer ähnlichen Abstumpfung zu führen. Auf lange Sicht könnte die zunehmende Abstumpfung daher zu falschen therapeutischen Maßnahmen führen. OH
Quelle:

Grégoire M et al.: Repeated exposure to others‘ pain reduces vicarious pain intensity estimation. Eur J Pain 2016; 20(10): 1644-52

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