Management von Intoxikationen

Praxis-Depesche 8-9/2019

Auf Giftnotfälle jeder Art vorbereitet?

Zertifizierte Fortbildung
Intoxikationen können vorsätzlich oder versehentlich geschehen und einzelne Personen oder ganze Bevölkerungsgruppen betreffen. Beispiele sind Suizidversuche oder Angriffe mit chemischen Waffen. Bei der Behandlung Betroffener in der Klinik muss der Arzt anhand der Gesamtheit klinischer Befunde die Ätiologie erraten und adäquat behandeln.
Erste Maßnahmen
Vorab ist der Schutz der Hilfskräfte unabdingbar. Je nach Konstellation gehören dazu Schutzanzüge, Atemmasken usw. Bei den Patienten ist in der Regel die erste Maßnahme die Dekontamination. Haut, Augen und Wunden müssen bestmöglich von dem schuldigen Agens gereinigt werden, um weitere Kontaktschäden und die Resorption zu verhindern. Kontaminierte Kleidung wird schnellstmöglich entfernt.
Man spült in der Regel mit reichlich Wasser (Ausnahme: Intoxikation mit reaktiven Metallen), wäscht mit Flüssigseife und trocknet den Patienten. Zur Dekontamination der Augen werden Kontaktlinsen entfernt. Das Spülen kann mit Hilfe von Anästhetika- Tropfen etwas erträglicher gestaltet werden.
Bei Patienten in kritischem Zustand können Wiederbelebungsmaßnahmen schon vor der Dekontamination oder parallel daschon ein Antidot zur Anwendung bringen. Eventuell sind Antikonvulsiva oder andere Medikamente indiziert. Im Krankenhaus muss man auch frühzeitig an das psychische Trauma denken, das solche Unfälle hervorrufen können.
Eine Nomenklatur der klinischen Muster häufiger Vergiftungen (Toxidrome) wurde von US-Behörden entwickelt. Wenn man die charakteristischen Merkmale etwa von Opioiden, Cholinergika oder „knockdown“-Substanzen erkennt, kann man frühzeitig entsprechende Antidots verabreichen.
Ein Panel von Laborwerten kann die Differenzialdiagnosen eingrenzen helfen. Wenn das schuldige Gift am Patienten oder am Ort des Unglücks definitiv bestimmt wurde, ist ein gezieltes Vorgehen möglich.
 
Atemwegs-Irritanzien
Industrielle Gifte wirken sehr häufig via Inhalation auf den Atemtrakt. Sie setzten Säuren frei (dies gilt etwa für Chlor, Phosgen, Schwefeldioxid, Stickoxide) oder Laugen (Ammoniak), bilden Oxidanzien oder initiieren eine Entzündungskaskade.
Wenn die Stoffe gut wasserlöslich sind, wie z. B. im Fall von Ammoniak, setzt die Symptomatik (Brennen der Schleimhäute, Tränenfluss, Rhinorrhoe, Husten) schnell ein. Dies warnt die Betroffenen, so dass sie sich nach Möglichkeit der weiteren Exposition entziehen. In der Klinik wird supportiv behandelt.
Schlecht wasserlösliche Gifte machen sich dagegen oft erst mit einem spät einsetzenden akuten Lungenschaden bemerkbar. Die Patienten bemerken Auswurf, Brustenge und Dyspnoe bei Anstrengung. Befunde sind Dyspnoe, Tachypnoe, Giemen und Rasseln bei Auskultation. Die Sauerstoffsättigung fällt bei Belastung ab. Man verabreicht hier meist Kortikoide, obwohl ihr Nutzen nicht bewiesen ist. Wenn Sauerstoffgabe nötig ist, sollte man die O2-Sättigung an der unteren Grenze halten, damit oxidative Schäden eingedämmt werden.
 
Vesikanzien
Blasenbildende Stoffe wurden zuerst im Ersten Weltkrieg eingesetzt (Stickstofflost, Senfgas), neuerdings im syrischen Krieg. Das klinische Bild ähnelt dem durch andere korrosive Gifte, doch entwickeln sich über die äußeren Läsionen (an Haut, Augen usw.) hinaus ernste systemische Wirkungen, die denen von Zytostatika ähneln (z. B. Knochenmarkssuppression). Dekontamination ist die vordringlichste Maßnahme. In die Augen sollte eine Kombination aus Antibiotika und Kortikoiden instilliert werden. Bei Neutropenie setzt man G-CSF (Granulozyten- koloniestimulierenden Faktor) ein. Antioxidanzien, Antikoagulanzien und Kortikoide können indiziert sein.
 
Asphyktische Substanzen
Gifte, die den Atem nehmen, bewirken eine Gewebshypoxie mit schweren neurologischen und kardiovaskulären Folgen. Einfache Vertreter (Stickstoff und Methan) verdrängen O2 aus der Atemluft. Kohlenmonoxid und Methämoglobinbildner stören den O2-Transport, andere (u. a. Zyanid und Phosphin) beeinträchtigen den O2-Metabolismus (metabolische Azidose und Laktat- Anstieg sind die Folgen). Der arterielle O2-Partialdruck kann erst normal sein, bis Atemdepression und kardiovaskulärer Kollaps eintreten. Bei starker Exposition kommt es zum „ knockdown“-Syndrom.
Die Patienten bringt man an die frische Luft; man führt Wiederbelebungsmaßnahmen unter Gabe von reinem Sauerstoff durch. Eine metabolische Azidose wird korrigiert.
Bei Zyanid-Vergiftung muss mit einem Antidot behandelt werden. Früher verabreichte man Nitrit und Thiosulfat. Als bessere Option gilt Hydroxycobalamin (es verwandelt das Gift zu Vitamin B12).
 
Cholinergika
Cholinerg wirken Pestizide von Organophosphat- Typ (z. B. E 605) und Kampfstoffe wie Sarin oder Novichok. Sie hemmen die Acetylcholinesterase an Nervenverbindungen. Die Symptome der Intoxikation können auf Parasympathikus-Überstimulation beruhen (Miosis, Salivation, Urin- und Stuhausscheidung, Magenkrämpfe, Bronchospasmen, Bradykardie). Zum Tod kommt es durch zentrale Apnoe, verlegte Atemwege oder Paralyse der Atemmuskeln. Je nach Agens können in Sekunden Krämpfe, Lähmungen und Atemstillstand auftreten. Bei dermaler Resorption kann die Latenz bis zu 48 Stunden betragen.
Tests auf Organophosphate sind meist nicht verfügbar. Die Reaktion auf empirische Antidot-Gabe kann zur Diagnose verhelfen. Die Behandlung besteht vorwiegend aus supportiver Versorgung.
Atropin wirkt antimuskarinerg; es entlastet die Bronchien, wirkt gegen Hypotension und Bradykardie und lindert Krampfanfälle. Gegen Organophosphate braucht man aber hohe Dosen. Empfohlen bei Intoxikationen mit Nervengas oder Pestiziden wird auch Pralidoxim, ein Acetylcholinesterase-Reaktivator. Patienten in kritischem Zustand sollten auch Benzodiazepine gegen Krämpfe erhalten. WE


Hinweis: Dieser Artikel ist Teil einer CME-Fortbildung.

Quelle: Hanretig FM et al.: Hazardous chemical emergencies and poisonings. N Engl J Med 2019; 380: 1638-55

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