Deutscher Schmerzkongress 2002, Aachen

Praxis-Depesche 24/2002

Das Schmerzgedächtnis auslöschen

Ein Schwerpunkt auf dem Schmerzkongress war der neuropathische Schmerz, ein gefürchtetes, hartnäckiges Problem. Neue pathophysiologische Einsichten können helfen, ihn in den Griff zu bekommen.

Neuropathische Schmerzen sind chronische Schmerzen, die nach Schädigung nozizeptiver Systeme entstehen. Das Schmerzgedächtnis sitzt in einer kleinen Gruppe von Rückenmarksneuronen, die Rezeptoren für Substanz P exprimieren. Diese sind verantwortlich dafür, dass ein nozizeptiver Input zu Hyperalgesie und Chronifizierung von Schmerzen führt. Alle Pharmaka, die bei neuropathischen Schmerzen wirksam sind, beeinflussen zentrale Mechanismen: Antidepressiva, Antikonvulsiva und Opioide. Fehlanpassungen des ZNS an nozizeptive Reize können neuropathische Schmerzen "am Leben" erhalten. Wie Prof. Jürgen Sandkühler, Wien, ausführte, kommt es unter dem nozizeptiven Input zu einer Langzeitpotenzierung der synaptischen Übertragungsstärke im Rückenmark, zu einem Verlust inhibitorischer Interneuronen und zu einer Reorganisation afferenter synaptischer Verbindungen im Hinterhorn. Doch es gibt große Unterschiede in der Plastizität von Rückenmark-Neuronen. Wie Sandkühler herausfand, zeichnen sich plastisch veränderbare Neurone dadurch aus, dass ein starker nozizeptiver Reiz zum Anstieg des intrazellulären Kalziumgehalts führt. Eine weitere Besonderheit dieser für Plastizität empfindlichen Neuronen ist eine hohe Dichte von Substanz-P- oder NK1-Rezeptoren. In Tiermodellen wurde diese kleine Subpopulation von Neuronen selektiv zerstört - mit dem Ergebnis, dass Hyperalgesie und Chronifizierung ausblieben. Eine weitere Eigenschaft neuropathischer Schmerzen ist ihr anfallsartiges Auftreten, das Ähnlichkeit mit der Epilepsie aufweist: - Triggerfaktoren können die Schmerzen auslösen. - Die Schmerzen dauern länger als der Stimulus. - Sie betreffen ein größeres Areal als der Stimulus. - stereotyper Ablauf - Refraktärzeit, in der keine Schmerzattacken auslösbar sind - Unbehandelt besteht eine Tendenz zur Häufung. - Therapeutisch sind Antiepileptika wirksam. Neuropathische Schmerzen führen auch zu einer kortikalen Reorganisation. Dies Phänomen wurde erstmals bei Phantomschmerzen beschrieben, berichtete Prof. Herta Flor, Mannheim. "Ein langdauernder nozizeptiver Input bewirkt ebenso Veränderungen im Kortex wie ein fehlender nozizeptiver Input aus einer bestimmten Region." Funktionelle NMR-Studien zeigen, dass sich benachbarte Regionen verschieben und das Areal, das die abgetrennte Gliedmaße repräsentiert, überdecken. Je stärker die Überlappung, desto mehr Phantomschmerzen empfindet der Patient. Wenn es gelingt, den Phantomschmerz durch ein regionales Anästhesieverfahren auszuschalten, stellt sich der ursprüngliche Zustand in der kortikalen Repräsentation wieder her. Ein ständiger nozizeptiver Input bewirkt keine Wanderung von Arealen, sondern eine Vergrößerung. Es bildet sich sozusagen ein kortikales Schmerzgedächtnis aus. Dies hat bei Patienten, die amputiert werden, aufgrund der Schmerzen schon längst vor dem Eingriff stattgefunden. Die anschließende kortikale Reorganisation dieses großen Areals bringt ein relativ hohes Risiko für Phantomschmerzen mit sich. Weniger die akuten Schmerzen im Zusammenhang mit der Amputation, als die chronischen Schmerzen, die vorher bestanden haben, liegen Phantomschmerzen zugrunde. Durch perioperative Analgesie lässt sich deshalb Phantomschmerzen kaum vorbeugen. Als viel wichtiger schätzt Flor ein, vorbestehende chronische Schmerzen auszuschalten, damit sich das kortikale Areal wieder verkleinert. Zur Therapie neuropathischer Schmerzen werden Antikonvulsiva eingesetzt. Sie dämpfen die ektope Aktivität in peripheren Nerven und die epileptiforme Hyperaktivität in Hinterhorn-Neuronen des Rückenmarks, wie Dr. Rainer Freynhagen, Düsseldorf, erklärte. Carbamazepin besitzt zwar eine gute Wirksamkeit, ist jedoch mit Nebenwirkungen belastet. Als sehr gut verträglich und wirksam hat sich inzwischen Gabapentin etabliert. Trizyklische Antidepressiva verstärken das körpereigene deszendierende Schmerzhemmsystem. Hilfreich sind Substanzen wie Amitriptylin, die sowohl die Noradrenalin- als auch die Serotonin-Wiederaufnahme hemmen. Auch mit den neuen Substanzen Mirtazapin und Venlafaxin liegen positive Erfahrungen vor, aber kontrollierte Studien stehen noch aus. Die Datenlage widerlegt auch die Vorstellung, dass neuropathische Schmerzen nicht opioidsensibel sind. Mit Opioiden wird vielmehr in 50 bis 60% der Fälle ein positiver Effekt erzielt. Sie reduzieren die synaptische Übertragung und die Erregbarkeit nozizeptiver Neuronen. Sie können auch in vivo die zentrale Sensibilisierung rückgängig machen. Generell wird mit den verschiedenen Substanzen keine Stufentherapie durchgeführt. Es müssen häufig zwei oder drei kombiniert werden, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Niemals handelt es sich nur um eine Pharmakotherapie. Regionalanästhetische Verfahren, Sympathikus-Blockade und psychologische Betreuung ergänzen die Therapieoptionen. Bei Phantomschmerzen hat sich eine myoelektrische Prothese bewährt, die dem Gehirn den Input von der fehlenden Extremität vormacht. Mit den Schmerzen bildet sich die Reorganisation der kortikalen Areale zurück.

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