20.-24. Oktober in München

Praxis-Depesche 2/2000

Deutscher Schmerzkongress 1999

Unter dem Leitthema "Netzwerk Schmerz" fand Ende Oktober in München der Deutsche Schmerzkongress 1999 statt. Schwerpunkte waren u.a. die neuronale Plastizität bei Schmerz, die molekulare Grundlage analgetischer Wirkungen und Fortschritte in der Bildgebung zentraler Strukturen. An Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen beteiligte psychosoziale Faktoren und interdisziplinäre Therapien rundeten das Themenspektrum ab.

Bei erhaltener Hirnstamm- und Zwischenhirnfunktion sollen bei Patienten mit apallischem Syndrom keinerlei Schmerzwahrnehmungen möglich sein. Dieser Annahme widerspricht eine jüngst veröffentlichte PET-gestützte Studie, in der eine Aktivierung des Gyrus fusiformis nach Darbietung emotional ansprechender Photographien nachgewiesen werden konnte. Diese und andere Studienresultate deuten darauf hin, dass bei Apallikern durchaus Schmerzempfindungen auslösbar sein könnten. Gerade die Bedingungen eines Therapieabbruchs mit Unterbrechung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr müssen unter diesem Aspekt ethisch neu bewertet werden. (M. Klein, Würzburg) Mit einem Anteil von 30 bis 88% sind periphere Neuropathien bei HIV-infizierten Patienten eine der häufigsten Ursachen von Schmerzen. Nach Ausschluss von Polyneuropathien anderer Genese (Mangelernährung, Vit.-B12-/Folsäure-Mangel etc.) und toxischer, oft durch die Virustatika, Zytostatika, Tuberkulostatika oder Antibiotika verursachter Neuropathien werden herkömmliche Analgetika wie ASS oder Naproxen eingesetzt. Bei Persistenz der Beschwerden ist die Dauertherapie mit Gabapentin sinnvoll. Eine symptomatische Therapie mit Thymoleptika wie Amitriptylin oder Flupirtin sowie die lokale Anwendung von Capsaicin erweitern die Behandlungsmöglichkeiten. Nach mehreren erfolglosen Versuchen ist auch die kombinierte Schmerztherapie unter Verwendung von retardiertem Morphin indiziert. (I. W. Husstedt, Münster) Schmerzpatienten weisen in ihren schmerzbezogenen Überzeugungen, Einstellungen und Bewältigungsstrategien stärkere Verzerrungen auf als beispielsweise psychisch kranke Menschen. Dieses als "Hindsight-Bias" bekannte Phänomen kann bei Auftreten eines Akutschmerzes die Chronifizierungsgefahr erhöhen. Die global erhöhte Urteilsverzerrung ist möglicherweise so gar ein prämorbides "Trait"-Merkmal chronischer Schmerzpatienten. (M. Ruoß, Füssen) Der Dauerschmerz bei Trigeminusneuropathie kann durch Implantation einer Stimulationselektrode in das Ganglion Gasseri erfolgreich behandelt werden. Nach Teststimulation entschlossen sich 105 von 215 Patienten zur Dauerimplantation. Die Langzeiterfolgsaussichten liegen bei etwa 80%. Damit stellt dieses Verfahren die Methode der Wahl bei medikamentös therapieresistenten Formen dieses Schmerzsyndroms dar. (U. Steude, München) Mit Verapamil-Dosierungen, die deutlich über den derzeit empfohlenen Wirkstoffmengen liegen, konnte bei 12 von 15 Patienten mit chronischem Clusterkopfschmerz eine Attackenfreiheit erreicht werden. Nachdem die Dosis von 720mg/d (aufgeteilt auf 2 Tagesgaben) auf 480mg/d reduziert wurde, kam es bei 4 der 12 Patienten zum Wiederauftreten der Attacken. Die Therapieoption mit hochdosiertem Verapamil sollte in kontrollierten Studien geprüft werden. (H. Göbel, Kiel) Kinder aus Familien, in denen die Eltern Schmerzpatienten sind, zeigen anscheinend eine erhöhte Neigung zu schmerzbezogenen Aggravationen. Eine negative Haltung der Eltern gegenüber dem Schmerz korrelierte mit negativen Einstellungen der Kinder. In einer zweiten Studie ließ sich allerdings nicht eindeutig bestätigen, dass diese Kinder eine erhöhte Aufmerksamkeit oder eine stärkere emotionale Reaktion gegenüber schmerzbezogenen psychischen Stimuli aufweisen. "Lernen am Modell" ist ein psychobiologisches Konzept, das die familiäre Häufung chronischer Schmerzzustände erklären könnte. (C. Hermann, Berlin) In experimentellen Schmerzmodellen zur Wirkung systemisch und regionalanästhetisch verabreichten Lidocains wurde deutlich, dass das Anästhetikum nur in Modellen wirksam ist, in denen mechano-insensitive Nozizeptoren eine zentrale Rolle spielen. So lassen sich die antihyperalgetische und die antipruritogene Wirkung sowie die Nichtbeeinflussung der Akutschmerzschwelle erklären. Die Rolle mechano-sensitiver und -insensitiver Fasern könnte im Zusammenhang mit der Erforschung spezifischer Natriumkanäle zur Entwicklung neuer Analgetika beitragen. (W. Kopper, Erlangen) Chronische Kopfschmerzen unterschiedlicher Genese (Migräne, Cluster- und Spannungskopfschmerz) lassen sich mit einer verhaltenstherapeutisch ausgerichteten, interdisziplinären Behandlung auch langfristig bessern. Besonders durch Einzeltherapie, Entspannungstraining und Teilnahme an einer Kopfschmerzbewältigungsgruppe wurden in einer Studie signifikante Besserungen von Kopfschmerzhäufigkeit und -intensität sowie eine höhere Schmerzbewältigungskompetenz erzielt. Die sowohl psychologisch als auch physikalisch und medikamentös behandelten Patienten konnten die Erfolge über zwei Jahre hinweg aufrechterhalten. (A. Pielsticker, Windach)

Alle im Rahmen dieses Internet-Angebots veröffentlichten Artikel sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch Übersetzungen und Zweitveröffentlichungen, vorbehalten. Jegliche Vervielfältigung, Verlinkung oder Weiterverbreitung in jedem Medium als Ganzes oder in Teilen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlags.

x