56. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft

Praxis-Depesche 7-8/2022

Diabetes in Pandemiezeiten: Das Adipositasproblem spitzt sich zu

Im Rahmen des diesjährigen Kongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) wurde ein Schlaglicht auf den ohnehin dramatischen Problemkomplex aus Übergewicht und Diabetes geworfen, das sich in der Zeit der Coronapandemie- bedingten Einschränkungsmaßnahmen noch weiter verschärft hat. Mit Hochdruck wird an neuen Therapiestrategien geforscht, die sich sowohl auf die Ursache der Adipositas sowie deren Eindämmung mit effektiven Verhaltens- sowie medikamentösen Strategien konzentrieren.
In einer Umfrage gaben knapp 40 % der Erwachsenen an, während der zwei Jahre der Coronapandemie im Schnitt 5,5 kg zugenommen zu haben. Dabei sind bereits 57 % aller deutschen Erwachsenen und jedes siebte Kind übergewichtig. Besonders dramatisch: Auch rund 20 % aller adipösen Kinder und Jugendlichen haben durch Homeschooling, Ausgangssperren und Lockdowns an Gewicht zugelegt, berichtete Prof. Martin Wabitsch, Ulm. Dass manche Kinder übermäßig an Gewicht zunehmen und eine Adipositas entwickeln, andere aber nicht, liegt an der individuellen biologischen Veranlagung. Studien konnten für extreme Adipositas nun eine Reihe genetischer Ursachen entlarven, die teilweise gezielt behandelbar sind. Die eingesetzten Medikamente reduzierten nicht nur das Gewicht der Patient:innen, sondern sorgten auch für spürbar weniger Hyperphagie. Eine Indikation zur genetischen Untersuchung besteht bei Kindern mit frühmanifester extremer Adipositas und Hyperphagie (bei ca. 20 % ist ein ursächlicher Gendefekt nachweisbar) sowie bei Jugendlichen mit extremer Adipositas vor einem Adipositas-chirurgischen Eingriff.
 
Fastenstrategien bewähren sich
In den meisten Fällen sind Über- und Fehlernährung für die Entstehung von Übergewicht und Typ-2-Diabetes verantwortlich. Als langfristig wirksame effektive Gegenmaßnahme empfiehlt Prof. Stephan Herzig, München, Fastentherapien wie das Intervallfasten. Dabei nutzt der Körper den Fettabbau und nur bei sehr langem Hungern auch den Eiweißabbau, um die Zuckerproduktion in der Leber anzukurbeln. Zudem werden in der Leber Ketonkörper als Energielieferanten für das Gehirn gebildet. Auch, wenn das Fasten nicht immer zu einer Gewichtsreduktion führt, zeigen sich in jedem Fall positive Effekte wie eine Blutdrucksenkung und eine Verbesserung der Glukoseund Blutfettwerte, auch bei Patient:innen mit Stoffwechselstörungen im Kontext von Diabetes oder Adipositas. In einer Studie konnte durch Fastenperioden sogar eine Verbesserung der Nierenfunktion bei diabetischer Neuropathie erreicht werden. Anders als viele weitere Ernährungsansätze ist das Intervallfasten für Patient:innen oft leichter langfristig umsetzbar und auch Jojo-Effekte werden vermieden.
 
Neue effektive Medikamente
Auch wenn Fasten für viele Übergewichtige eine gute Strategie sein kann, erreicht man mit Lebensstilumstellungen vor allem bei starker Adipositas nur selten langfristige Erfolge. Mit der Adipositaschirurgie sind dagegen Gewichtsreduktionen von ca. 30 % möglich. Jedoch fehlt es an skalierbaren pharmakologischen Strategien für den Zwischenbereich, so Prof. Matthias Blüher, Leipzig. In Deutschland gibt es zwar leitliniengerechte Optionen für die langfristige Adipositastherapie (Orlistat, Liraglutid, Naltrexon/Bupropion, Semaglutid), doch würden diese zu selten eingesetzt. Neuen Aufwind könnten nun die STEP-Studie zu Semaglutid und die SURMOUNT-1-Studie zu dem GLP-1-/GIP-Rezeptoragonisten Tirzepatid bringen. Mit Semaglutid konnte nach 68 Wochen eine mittlere Gewichtsreduktion von ca. 17 % erreicht werden, und ein Drittel der Behandelten erzielte einen Gewichtverlust von über 20 %. Unter Tirzapetid konnte über 72 Wochen eine Gewichtsreduktion von 22,5 % erreicht werden, und fast 63 % der Proband:innen gelang es, mehr als 20 % ihres Ausgangsgewichts zu verlieren.
 
Hohes Krebsrisiko, vor allem bei Männern
Mittlerweile sind Tumorerkrankungen die häufigste Todesursache bei Typ-2-Diabetes, und die Risikobeziehung zwischen Diabetes und Tumoren der weiblichen Brust, der Leber, der Bauchspeicheldrüse und des Darms ist klar nachgewiesen, warnte Prof. Hans Scherübl, Berlin. Die Höhe des individuellen Krebsrisikos steigt dabei mit dem BMI und dem Maß der Stoffwechselentgleisung. Eine optimierte Diabetesprävention und -therapie sowie Lebensstilmaßnahmen sind daher auch wichtig für die Krebsprävention. Scherübl forderte dazu auf, Aufklärungsbemühungen und Vorsorgeangebote bei Diabetespatient:innen zu verstärken und dabei besonders Männer ins Visier zu nehmen, da sie Früherkennungsuntersuchungen eher scheuen als Frauen. Zudem sollte man allen diabetischen Rauchern eine professionelle Tabakentwöhnung nahelegen.

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