Deutsche, Österreichische und Schweizer Onkologen, Basel, 2003

Praxis-Depesche 24/2003

Die Anämie nützt nur dem Tumor

Eine Anämie zählt zu den häufigsten Symptomen, die fortgeschrittene Tumorerkrankungen hervorrufen. Von den Krebspatienten, die chemotherapeutisch behandelt werden, leiden zwischen 50 und 90% an einer Anämie. Diese verschlechtert nicht nur die Lebensqualität und erfordert Bluttransfusionen, sondern beeinträchtigt auch die Prognose.

Die Anämie wird zum einen durch die Tumorerkrankung selbst hervorgerufen. Durch die Chemotherapie aber wird das Problem weiter verschärft. Patienten mit Anämie leiden unter Symptomen wie Ermüdbarkeit, Atemnot, Palpitationen und kognitiven Einschränkungen. Traditionell wird jedoch erst bei Hämoglobinwerten unter 8 g/dl daran gedacht, Blut zu transfundieren oder Erythropoeitin zu verabreichen. Es gibt aber heute Grund genug, eine Anämie bei Tumorpatienten überhaupt nicht hinzunehmen. Denn neue Untersuchungen haben ergeben, dass die Tumoranämie nicht nur die genannten Beschwerden und Symptome verursacht und damit die Lebensqualität mindert, sondern auch die gesamte Prognose des Patienten verschlechtert. Aus einer aktuellen Metaanalyse von 60 Studien geht hervor, dass eine Anämie das Mortalitätsrisiko von Patienten mit verschiedenen Tumorerkrankungen im Mittel um 65% steigert. Besonders deutlich war dieser Zusammenhang ausgeprägt bei malignem Lymphom, multiplem Myelom, Kopf-Hals-Tumoren und Zervixkarzinom. Patienten mit diesen Malignomen wiesen ein mehr als doppelt so hohes Mortalitätsrisiko auf, wenn eine ausgeprägte Tumoranämie bestand, im Vergleich zu den Patienten ohne Anämie. Auch in einzelnen Studien trat die Beziehung zwischen Anämie und Langzeitprognose zutage: Patienten mit metastasierten Keimzelltumoren, deren Hämoglobinwert am Ende der Chemotherapie im Mittel unter 10,5 g/dl lag, wiesen in einer Studie eine um etwa 15% schlechtere Überlebensrate auf als die Patienten mit höheren Werten. Prof. Carsten Bokemeyer, Tübingen, führte folgende Mechanismen an, die diesen Zusammenhang erklären können: Die Anämie führt zu einer Hypoxämie, die auf der einen Seite die Empfindlichkeit der Tumorzellen gegenüber Strahlen und Chemotherapeutika verringert, die Tumorzell-Progression begünstigt und die Neovaskularisation im Tumorgewebe stimuliert. Auf der Patientenseite aber kann die Anämie die Immunabwehr schwächen und die Verträglichkeit der Therapie vermindern. Der Patient kann nicht so intensiv wie geplant behandelt werden. Entsprechend verschlechtern sich die Therapieergebnisse. Vor allem der Erfolg einer Strahlentherapie scheint durch eine Anämie geschmälert zu werden. Es konnte gezeigt werden, dass die Strahlentherapie bei Patienten mit Zervixkarzinom und Kopf-Hals-Tumoren eine signifikant schlechtere lokale Tumorkontrolle und signifikant niedrigere Überlebensraten erbrachte, wenn eine Tumorhypoxie nachgewiesen war oder eine Anämie bestand. In präklinischen Modellen versucht man nun, die molekularen Veränderungen, die eine Hypoxie bewirkt, näher aufzuklären. Eine zentrale Rolle scheint ein heterodimeres Protein, der hypoxemia inducible factor 1 (HIF-1) zu spielen. Dieses wird bei einem pO2 unter 5 mmHg aktiviert und stimuliert die Transkription von Genen wie Erythropoeitin, VEGF (vascular endothelial growth factor), Glukosetransporter und TGF (transforming growth factor). In klinischen Studien wird bereits untersucht, ob die Prognose von Tumorpatienten verbessert werden kann, indem man die Tumorhypoxie vermindert. Eingesetzt werden Erythropoese-stimulierende Proteine wie Erpoetin alfa. Es interessiert dabei vor allem, ob sich mit dem Anstieg des Hämoglobinwerts das Ansprechen auf Strahlen- oder Chemotherapie verbessert. Definitive Ergebnisse werden erst in etwa zwei Jahren vorliegen. Vorläufige Beobachtungen sind aber durchaus positiv. Bestätigen sich die Erwartungen in plazebokontrollierten klinischen Studien, so wird Erythropoeitin nicht mehr nur zu den Supportiv-Medikamenten gehören, sondern ein Bestandteil der prognoseverbessernden Antitumor-Therapie werden.

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