Spätestens mit Einführung der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) in den 90er-Jahren hat sich die Idee, Depressionen seien Folge eines reduzierten Spiegels oder einer verminderten Aktivität von Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT), fest in der Medizin etabliert. Die Tatsache, dass Antidepressiva Wirkung zeigen, scheint auch dafür zu sprechen. Wissenschaftliche Belege dafür gibt es aber kaum, wie ein Review über alle bis 2020 dazu publizierten Studien aufzeigt. In Metaanalysen mit Daten aus 17 Studien konnte für den Serotonin-Metaboliten 5-Hydroxyindolylessigsäure (5-HIAA) sowie für den Plasma-Serotoninspiegel kein Zusammenhang mit Depressionen festgestellt werden. Dafür fand man Hinweise darauf, dass die langfristige Einnahme von Antidepressiva eine verringerte Serotoninkonzentration fördert.
Nicht mehr Serotonin, sondern weniger
Metaanalysen zum Serotoninrezeptor (5-HT1A-Rezeptor) und zum Serotonintransporterprotein (SERT bzw. 5-HHT) lieferten allenfalls schwache und inkonsistente Hinweise auf eine verringerte Bindungsstärke, die für eine erhöhte synaptische Verfügbarkeit von Serotonin bei Depressiven sprechen würde. Allerdings konnte in den Studien nicht ausgeschlossen werden, dass hierfür auch eine frühere Einnahme von Antidepressiva die Ursache gewesen sein könnte. Ein Tryptophan- Entzug führte bei den meisten gesunden Probanden auch nicht zu einer Depression, nur bei Personen mit Depression in der familiären Vorgeschichte fand man schwache Hinweise dafür. Auch in Bezug auf das SERT-Gen zeigte sich kein Zusammenhang mit Depressionen.
Für die Hypothese, dass Depressionen durch einen Mangel an Serotonin verursacht werden, gibt es also keine handfesten Beweise. Vielmehr scheinen Antidepressiva langfristig die Serotoninkonzentration zu verringern – vermutlich ein kompensatorischer Effekt ihrer akuten Serotonin-steigernden Wirkung. OB