Sexualmedizin

Praxis-Depesche 10/2022

Ich halte es für meine ethische Verpflichtung, Frauen beizustehen

Kristina Hänel ist Fachärztin für Allgemeinmedizin mit den Weiterbildungsschwerpunkten Sexualpädagogik, Sexualmedizin, Schwangerschaftsabbruch, Psychiatrie, Innere Medizin, Gynäkologie, Anästhesie sowie Notfallmedizin und arbeitet in eigener Praxis in Gießen.
Am Freitag, den 24.6.2022, wurde § 219a abgeschafft. Kristina Hänel saß auf der Besuchertribüne. Es muss ein besonderer Moment für die Gießener Allgemeinärztin gewesen sein, so wie es eine längst überfällige Entscheidung für alle Frauen und die gesamte Ärzteschaft war. Die juristische Odyssee Hänels zog sich von 2009 bis zu der Entscheidung dieses Jahres. Die vielen Anzeigen, die sie erhielt, konnten die Abtreibungsgegner nur durch das Schlupfloch § 219a, dem sog. Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, erstatten. Dieses machte es möglich, Ärzt:innen, die fachlich über Schwangerschaftsabbrüche auf ihrer Homepage informierten, zu verklagen. Hänel machte den Kampf öffentlich und zeigte damit die großen Schwachstellen im Frauen- und Gesundheitsrecht auf. In Ihrer Stellungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags am 18.5.2022 schrieb sie:
„Es gibt keinen guten Grund, Frauen und anderen Personen, die von ungewollter Schwangerschaft betroffen sind, Informationen vorzuenthalten. Der einzige Grund für ein Informationsverbot wäre, ihnen die Wege zu erschweren, sie zu demütigen, sie in die Irre zu führen, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Das steht uns in einem modernen, freiheitlichen und demokratischen Staat nicht zu.“
 
Frau Hänel, in Ihrem Buch „Das Politische ist persönlich“ gibt es eine einprägsame Stelle. Sie beschreibt den 18.11.2017, das letzte Wochenende vor dem Prozess gegen Sie wegen Verstoßes gegen § 219a. Sie schreiben: „Nur der Brötchenteig, den ich gestern vorbereitet habe, um mal wieder ein bisschen Normalität herzustellen und meinen guten Willen im Haushalt zu zeigen, ist irgendwie komisch.“ Ihre Gedanken kreisten damals nur noch um das Thema Schwangerschaftsabbrüche und § 219a. Glauben Sie, jetzt, nach der lange überfälligen Streichung von § 219a, können Sie wieder etwas mehr Privatleben, genug Raum für sich und für Ihre ärztliche Tätigkeit, mehr Normalität zurückgewinnen? Anders gefragt: Kann der Brötchenteig wieder gelingen?
 Ja, das Backen klappt inzwischen wieder ganz gut. Ich musste ja im Laufe der Jahre auch lernen, mit dieser Ausnahmesituation umzugehen. Nun erhoffe ich mir tatsächlich mehr Zeit für ein Privatleben, für die Praxis, für Ausbildung, Forschung und Lehre. Ich denke, das sind die Schwerpunkte, wo ich nun gebraucht werde. Noch gibt es ja einiges zu verbessern an der Versorgungslage beim Schwangerschaftsabbruch in Deutschland.
 
Was medial mit Ihnen passiert ist, diese Einordnung als „Abtreibungsärztin“, auf der einen Seite die Anfeindungen, auf der anderen Seite die Unterstützung von Kolleg:innen und Verbänden, was hat das mit Ihnen über die Jahre gemacht?
Ich glaube, dass die Enttabuisierung des Themas und die doch weitgehend positive Besetzung des Begriffs „Abtreibungsärztin“ in weiten Teilen der Bevölkerung nicht nur mich als Ärztin ein Stück aus der „Schmuddelecke“ herausgeholt haben, sondern nun auch der Gesellschaft einen sachlicheren und faireren Umgang mit den betroffen Frauen und ihren Angehörigen ermöglichen. Die Anfeindungen gab es schon seit Jahrzehnten. Dadurch, dass dies nun öffentlich wahrgenommen wird, ist der erste Schritt zum Schutz von Betroffenen, Beratungsstellen und Ärztinnen und Ärzten, die Abbrüche durchführen, gemacht.
 
In Ihrer Stellungnahme und auch Ihrem Buch betonen Sie, dass Ihnen als Ärztin zwei Punkte wichtig sind: 1. Die medizinische Versorgung der ungewollt Schwangeren und 2. Kinder, die auf die Welt kommen, sollen gewollt, angenommen und geliebt sein. Gehen Sie mit Menschen noch in Dialog, die diese Aspekte mit dem Argument „das Recht auf Leben steht über allem“ negieren? Sehen Sie einen Sinn in Diskussionen mit Abtreibungsgegner:innen?
Mit Menschen, die aus fundamentalistisch ideologischen Gründen nicht etwa das Wohlergehen von Kindern im Kopf haben, sondern denen es lediglich um eine Abkehr von Aspekten der Gleichberechtigung und Menschenwürde auch für Frauen geht, ergibt meiner Erfahrung nach eine Diskussion keinen Sinn. Das entspricht ungefähr den Erfahrungen, die wir jetzt mit der „Querdenker“- Szene machen. Inhaltliche und wissenschaftliche Argumente zählen nicht. Wer mich als Mörderin bezeichnet oder Abbrüche mit dem Holocaust vergleicht, will keine Diskussion, er stellt mein Leben zur Disposition. Mit Menschen, die mit mir über Lebensschutz, Gesundheitsfragen und Kinderrechte diskutieren möchten, gehe ich gerne in Dialog. 
 
Frauen die Entscheidung über ihren eigenen Körper und ihre Lebensplanung abzusprechen ist ja ein erschütternder Trend. Tragischerweise am selben Tag, dem 24.6., der in Deutschland mit der Abschaffung von § 219a ein guter Tag für den Kampf für Frauenund Gesundheitsrechte war, wurde in den USA das bisherige nationale Recht auf Abtreibung abgeschafft. Wie bewerten Sie diese jüngste Entwicklung?
Ein weltweiter Trend zu fundamentalistischen, diktatorischen Denk- und Herrschaftsstrukturen ist festzustellen. Leider eben auch in Amerika, vertreten durch Trump und antidemokratische Strukturen. Dazu gehört in der Regel als eine der ersten Handlungen die Unterdrückung von Frauenrechten und insbesondere hier der Zugriff auf reproduktive und sexuelle Rechte. Gleichzeitig beobachten wir weltweit eine Liberalisierung der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch. Als Beispiele seien hier das katholisch geprägte Irland genannt sowie einige südamerikanische Länder, unter anderem Argentinien, und nun sieht man den gleichen Trend in einigen afrikanischen Ländern, die bisher noch Kolonialgesetze bzgl. Schwangerschaftsabbruch hatten – außer Südafrika.
 
Eine Frau, die ungewollt schwanger ist, hat in Deutschland viele Hürden zu nehmen: Strafgesetze, vorgeschriebene Bedenkzeiten, Pflichtberatung. § 218 legt fest: Ein Schwangerschaftsabbruch ist rechtswidrig, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei. Was würden Sie sich bezüglich § 218 wünschen?
Ich würde wünschen, Deutschland würde sich an der Aufforderung der WHO orientieren und die Pflichtberatung und Bedenkzeit abschaffen, da sie die Gesundheit der Frauen negativ beeinflussen. Eine freiwillige Beratung ist sinnvoll. Ich würde mir eine Krankenkassenfinanzierung wünschen, Strafbarkeit der sogenannten Gehsteigbelästigung und von Holocaust-Vergleichen. Ich würde mir eine adäquate medizinische Versorgung der Betroffenen wünschen.
 
Sie berichten aus Ihrem Praxisalltag von verzweifelten Frauen, die teilweise die Fristen nicht einhalten können. Die Gründe sind u. a., dass sie keinen zeitnahen Termin bei der Gynäkologin bzw. dem Gynäkologen bekommen, dass es immer noch von der persönlichen Einstellung der Ärzt:innen abhängt, ob und in welchem Ausmaß Informationen zu einem Abbruch bereitgestellt werden. Was muss sich da ändern, auch in den Köpfen der Kolleg:innen?
Vielleicht gilt für einige noch zu sehr das Denken des „Herrgotts in Weiß“. Dass wir Ärzt:innen über Leben und Tod entscheiden könnten. Den Kolleg:innen sollte klar sein, dass letztlich nur die Betroffene entscheiden kann, ob sie einem Kind das Leben schenkt oder nicht. Niemand anders kann das, weder der Staat noch die Ärzt:innen. Und wenn medizinische Hilfe an dieser schwierigen Stelle verweigert wird, bedeutet es eben nicht, dass dann ein gewolltes und geliebtes Kind geboren wird, sondern es bedeutet letztlich, dass die Betroffene in Gefahr gerät oder sich am Ende suizidiert. Die Kolleg:innen sollten aufhören, sich ethisch höherwertig zu fühlen und mit dem Finger auf die zu zeigen, die den Frauen eben diese Hilfe nicht verweigern. Ich halte es für meine ethische Verpflichtung, Frauen beizustehen.
 
Zwischen 2003 und 2018 ist die Zahl der Arztpraxen und Kliniken, die Abtreibungen durchführen, um 40 % zurückgegangen. Abtreibungen sind kein fester Bestandteil des Medizinstudiums, nicht mal der gynäkologischen Fachausbildung. Der Nachwuchsmangel führt zu Versorgungslücken, die es in ländlichen Gebieten schon lange gibt. Was muss Ihres Erachtens passieren, um den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen auch in Zukunft zu ermöglichen?
Wir müssen weiter gegen die Stigmatisierung arbeiten, den Schwangerschaftsabbruch in Forschung und Lehre sowie Ausbildung etablieren. Ärzt:innen müssen geschützt werden. Die Abschaffung des § 219a ist ein erster Schritt in diese Richtung, da er nun endlich Rechtssicherheit bzgl. der notwendigen Informationen bietet.
 
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Hänel!

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