Polypharmazie bei älteren Patienten

Praxis-Depesche 5/2017

Mehr Absetzen wagen – Mortalität senken

Viele ältere Patienten nehmen täglich mehrere Medikamente ein. Dies kann die Kognition beeinträchtigen, zu Stürzen führen, die Morbidität erhöhen, und so die Mortalität in dieser Patientengruppe vergrößern. In einem Review wurde nun untersucht, inwieweit sich „Deprescribing“ (vulgo: Absetzen) auf die betroffenen Patienten auswirkt.

Kommentar
Mithilfe des sog. PIM-Konzepts (PIM = potenziell inadäquate Medikation) wird nach einem Ansatz gesucht, um bestimmte Medikamente in der Therapie älterer Menschen erst gar nicht einzusetzen. In der PIM-Liste sind Wirkstoffe verzeichnet, die älteren Patienten nicht verschrieben werden sollten, auch wenn Kontraindikationen nicht direkt vorliegen. Diesen Prozess der Optimierung der Pharmakotherapie durch das Absetzen von PIM wird als „Deprescribing“ bezeichnet, was wohl am besten durch „Streichen“ oder „Absetzen“ unnötiger oder sogar schädlicher Medikamente zum Wohle des Patienten verstanden werden kann. Hierdurch soll es gelingen, Lebensqualität und Lebenserwartung zu steigern, sowie die Effektivität der Medikation zu verbessern. Im Gegensatz zum Begriff Deprescribing ist auch in Deutschland dieses Konzept nicht neu. So findet man es beispielsweise in der vor zwei Jahren veröffentlichten „Hausärztlichen Leitlinie Multimedikation“ in Ansätzen.
 
Redaktion Praxis-Depesche
Der Prozess des Deprescribing wird definiert als das von Spezialisten kontrollierte Absetzen ungeeigneter Medikamente. Ziel ist es, die Polypharmazie des Patienten zu reduzieren und sein Outcome zu verbessern. Der Prozess sollte in fünf Schritten erfolgen:
1. Erfassung aller Arzneimittel (und ihrer jeweiligen Therapiegründe), die der Patient derzeit einnimmt, und der Adhärenz
2. Abschätzung des individuellen Risikos arzneimittelbedingter Schäden
3. Beurteilung, welche Arzneimittel zum Absetzen geeignet sind
4. Priorisierung der abzusetzenden Arzneimittel
5. Implementierung und Überwachung des Absetzplans
Für das Review fanden die Forscher in verschiedenen Datenbanken 134 Studien mit insgesamt 34 143 Patienten, die die Einschlusskriterien erfüllten. Die Teilnehmer waren 73,8 ± 5,4 Jahre alt. Primärer Parameter war die Mortalität. Zu den sekundären Prüfparametern gehörten Entzugserscheinungen, psychische und physische Gesundheit, Lebensqualität, erfolgreiches Deprescribing, verschriebene Medikamente, Einnahme potenziell inadäquater Medikamente.
In zehn randomisierten Studien wurde untersucht, inwieweit das Deprescribing die Mortalitätsrate beeinflusst. Die Follow-up-Phase dauerte 9,6 Jahre. In diesen Studien zeigte sich kein signifikanter Effekt auf die Mortalität (OR 0,82; 95%-KI 0,61-1,11). Eine Subgruppenanalyse in acht Studien mit 1906 Patienten zeigte jedoch, dass patientenspezifische Deprescribing- Programme durchaus zu einer signifikanten Verringerung der Mortalitätsrate führte (OR 0,62; 95%-KI: 0,43-0,88). Diese Programme beinhalten patientenindividuelle Therapieziele, aktuellen Gesundheitszustand, Lebenserwartung, individuellen Nutzen und Vorlieben des Patienten. Dagegen veränderten allgemeine Erziehungsprogramme die Mortalität nicht (OR 1,21; 95%-KI: 0,86-1,69). Weitere Subgruppenanalysen nach Alter der Patienten und eventuell vorhandener Demenz ergaben ebenfalls keine Veränderungen der Mortalität.
Interessanterweise ergab sich, dass in den zwei nicht-randomisierten Studien (n = 257), in denen der Einfluss auf die Mortalitätsrate untersucht worden war, durch die sinnvolle Verringerung der Medikamentenzahl eine signifikante Reduktion (Odds Ratio 0,32; 95%-KI: 0,17-0,60) erreicht wurde. Für die sekundären Prüfparameter wurden keine signifikanten Veränderungen festgestellt.
Wie die Autoren betonen, konnte ein patientenspezifisches Deprescribing die Lebenserwartung der Patienten deutlich verbessern. Dies wurde meist ohne Veränderung von Lebensqualität oder Gesundheit erreicht – ein für die Patienten positives Ergebnis. GS
Quelle:

Page A et al.: The feasibility and effect of deprescribing in older adults on mortality and health: a systematic review and meta-analysis. Br J Clin Pharmacol 2016, 82: 583-623

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