Als eine ihrer Tugenden gibt die westliche Medizin gerne vor, vollkommen wertneutral, also für jeden Menschen da zu sein – unabhängig von dessen Geschlecht, Gender oder Ethnie. Durch diesen Vorsatz der Neutralität bleibt allerdings die kritische Selbstreflexion der eigenen gelebten Kultur häufig auf der Strecke. Der Arzt hat nach diesem Modell gar keinen Anreiz, sich mit den spezifischen Bedürfnissen von Frauen, LGBTQ-Personen oder anderen Minderheiten auseinanderzusetzen. Solange ein (werdender) Arzt distanziert bleibt, bleiben Minderheiten für ihn befremdlich, und heteronormatives sowie gender-normatives Denken wird auf diese Weise weitherhin verstärkt.
Auch wenn der Frauen- und Minderheitsanteil in medizinischen Institutionen gestiegen ist, gilt nach wie vor: Wer nicht ins klassische Bild passt, muss sich dem patriarchalen System anpassen, um erfolgreich zu sein. So sind eine Teilzeiteinstellung und Verpflichtungen außerhalb der Arbeit im akademischen Arztwesen immer noch negativ konnotiert. Um das System wirklich verändern zu können, ist es wichtig, die Stimmen und Perspektiven derjenigen, die im bestehenden System bisher ungehört geblieben sind, nicht nur in die Institutionen, sondern auch in eine Entscheiderrolle zu bringen.
Gleichsam sollte man auch die Erfahrung des Patienten an erste Stelle setzen. Statt über den Patienten sollte man besser mit dem Patienten lernen. OH