Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2022

Praxis-Depesche 5/2022

Moderne Schmerzversorgung: Ganzheitlich behandeln mit neuen Ansätzen aus Natur und Technik

Unter dem Motto „Endlich leben“ fokussierte der diesjährige Deutsche Schmerz- und Palliativtag auf die komplexen Ansprüche einer individuellen und ganzheitlichen Patientenversorgung. Diskutiert wurden dabei u. a. der Stellenwert von Cannabinoiden, die Kopfschmerzdiagnostik beim Hausarzt sowie die Einsatzmöglichkeiten geprüfter Medizin-Apps.
Cannabinoide zeichnen sich durch ein komplexes Wirkspektrum aus, denn sie können muskelrelaxierend, antikachektisch, analgetisch, antiphlogistisch, sedativ, anxiolytisch oder antiemetisch wirken. Auch wenn die einzelnen Effekte in Studien nicht mit Signifikanzniveau festgestellt wurden, wird Cannabis auch in der aktuellen S3-Leitlinie Palliativmedizin erwähnt. Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) wird darin als Reserveoption zur Antiemese bei chemoinduzierter Übelkeit und Erbrechen genannt. Als Nebenwirkungen werden u. a. Vigilanzminderung, kognitive Einschränkungen, Schwindel, Halluzinationen und Blutdruckabfälle aufgelistet, was laut Dr. Knud Gastmeier, Potsdam, angesichts des Dosisspektrums nicht verwunderlich ist. So ist im Rahmen der Empfehlungen eine Dronabinol-Dosis von bis zu 160 mg tgl. möglich. Der Warnung in den Leitlinien, bei opioidbedinger Übelkeit Cannabinoide nicht einzusetzen, widerspricht Gastmeier allerdings. Da zunehmende Daten zeigen, dass sich durch Cannabinoide der Opioidbedarf reduzieren lässt, sind sie aus seiner Sicht sogar als kausale Therapie der opioidbedingten Übelkeit und Verstopfung zu betrachten. Einen Vorteil sieht Gastmeier auch im Einsatz von Cannabinoiden zur Minderung von Stress, Angstzuständen und Schlaflosigkeit von Palliativ:patientinnen, da es sich hierbei weniger um Einzelstörungen, sondern vielmehr um eine Art Symptommatrix verschiedener Erkrankungen handele, die es ganzheitlich zu behandeln gelte. Für den gezielten Einsatz stellt Gastmeier eine Übersicht mit Dosierempfehlungen bereit.
 
Kopfschmerzdiagnostik leicht gemacht
Kopfschmerzen sind der zweithäufigste Beratungsgrund in der Primärpraxis. Tipps zur Differenzialdiagnostik der häufigsten Formen primärer Kopfschmerzen gab Dr. Michael Küster, Bonn. Wichtig für die Differenzialdiagnostik der Migräne ist, dass diese sowohl mit als auch ohne Aura vorkommen kann, wobei letztere Form mit rund 80 % die Mehrheit der Fälle ausmacht. Von einer Migräne ohne Aura spricht man bei ≥ 5 Attacken, die vier bis 72 Stunden anhalten, mindestens zwei typische Charakteristika aufweisen (einseitig, pulsierend, mittelhohe bis hohe Intensität, Intensivierung bei körperlicher Aktivität oder Vermeidung dieser) und zudem mit Übelkeit/Erbrechen und/oder Photo- und Phonophobie einhergehen. Treten die Symptome an weniger als 15 Tagen im Monat auf, gilt die Migräne als episodisch. Ein Auftreten an ≥ 15 Tagen wird als chronisch eingestuft, wobei der Kopfschmerz an mindestens acht Tagen Migräne-typisch sein muss. Kopfschmerzen vom Spannungstyp zeichnen sich i. d. R. durch nicht pulsierende, dumpf drückende bilaterale Kopfschmerzen von leichter bis mittelschwerer Intensität von 12- bis 16-stündiger Dauer aus, die sich im Gegensatz zur Migräne bei Bewegung nicht verschlimmern und ggf. mit leichter Übelkeit, aber nicht mit Erbrechen assoziiert sind. Von einer chronischen Form spricht man auch hier bei einem Auftreten der Attacken an mehr als 14 Tagen pro Monat. Weitere primäre Kopfschmerzformen, die man laut Küster kennen sollte, sind Clusterkopfschmerz, paroxysmale Hemikranie, Hemicrania continua sowie Kopfschmerz, der de novo an einem Tag auftritt und seither persistiert. Der Clusterkopfschmerz differenziert sich davon durch einen stechenden, bohrenden Schmerz meist rund um das Auge oder temporal, der 15 bis 120 Minuten lang nachts auftritt und mit Tränenfluss, hängendem Augenlid, Pupillenverengung oder Augenrötung begleitet werden kann. Wichtig: Der Übergebrauch von Akutmedikation kann sog. Medikamentenübergebrauch- Kopfschmerz verursachen.
 
Psychotherapie per App
Ein viel diskutiertes Thema auf dem Kongress waren auch DiGA (digitale Gesundheitsanwendungen), die seit Oktober 2020 nach Zulassung durch die BfArM auf Rezept verordnet werden können. Apps wie „Selfapy“ erleichtern Schmerzpatient:innen den Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung, an der es in Deutschland im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung bekanntlich mangelt. Die App HelloBetter bietet in verschiedenen Indikationen Unterstützung in Form einer Akzeptanz- und Commitment- Therapie (ACT) – eine Form der kognitiven Verhaltenstherapie, bei der Betroffene lernen, Vermeidungsstrategien aufzugeben und ihr Schmerzerleben zu akzeptieren. Die Effektivität des ACT-Ansatzes, sowohl internetbasiert als auch im persönlichen Kontakt, ist durch mehrere Studien belegt.

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