Urologie

NATUR+PHARMAZIE 4/2020

Tabuthema Harninkontinenz

Harninkontinenz, also unfreiwilliger Harnverlust, ist nach wie vor ein Tabuthema und nur 20 % der Betroffenen suchen sich dafür ärztliche Unterstützung. Dabei gehört Blasenschwäche zu den häufigsten Gesundheitsproblemen und betrifft in Deutschland rund acht Millionen Menschen jeden Alters und Geschlechts.
Die Ursachen für Harninkontinenz können sehr vielfältig sein. Für die Anamnese werden neben der körperlichen Untersuchung nicht nur der Urin analysiert, sondern auch Miktions- und Trinkprotokolle abgefragt. Die weitere Abklärung der Harnblase, Harnröhre und ggf. der Nieren, erfolgt über Ultraschalluntersuchung. Kann daraus noch keine klare Diagnose gestellt werden, wird eine Blasendruckmessung zur Funktionsprüfung von Blase und Schließmuskel vorgenommen oder eine Blasenspiegelung durchgeführt. Die Ent-Tabuisierung dieses Themas ist enorm wichtig, da Inkontinenz neben dem körperlichen Leiden auch eine enorme psychische Belastung mit sich bringt und häufig bei den Betroffenen zu einem sozialen Rückzug sowie zur Vereinsamung führt.
 
Stressinkontinenz
Stressinkontinenz, oder auch Belastungsinkontinenz, zeichnet sich durch unwillkürlichen Harnverlust bei Tätigkeiten aus, die den Bauchinnendruck erhöhen, wie beispielsweise Niesen, Husten, Lachen oder Tragen und das ohne, dass die Betroffenen vorher Harndrang verspürt haben. Bei dieser Form der Harninkontinenz ist die Kraft des Blasenschließmuskels geschwächt, sodass der Schließmuskel zusätzlichem Druck auf die Blase, wie er bei körperlicher Belastung auftritt, nicht mehr standhalten kann. Diese Beckenbodenschwäche kann durch Schwangerschaft und Geburt oder durch den Östrogenmangel in den Wechseljahren hervorgerufen werden. In etwa 50 % der Fälle ist Stressinkontinenz bei Frauen mit einer Uterus-Scheidensenkung verbunden. Bei Männern wird die Beckenbodenmuskulatur zusätzlich von der Prostata gestützt. Männer sind daher deutlich seltener von einer Belastungsinkontinenz betroffen.
 
Schweregrade
Eine Stressinkontinenz bzw. Belastungsinkontinenz wird in unterschiedliche Schweregrade eingeteilt. Eine Belastungsinkontinenz ersten Grades liegt vor, wenn der Blasenschließmuskel erst bei schweren körperlichen Belastungen wie etwa beim Lachen, Husten, Niesen, Hüpfen oder Springen nachgibt. Von einer Belastungsinkontinenz zweiten Grades spricht man bei unwillkürlichem Harnabgang bereits bei leichten körperlichen Belastungen wie Treppensteigen, Gehen, Hinsetzen oder Aufstehen. Kommt es bereits im Stehen zu Urinabgang handelt es sich um Grad 3. Von Grad 4 spricht man bei unwillkürlichem Urinabgang im Liegen.
 
Therapie
Belastungsinkontinenz kann durch zahlreiche Therapiemaßnahmen behandelt werden. Häufig bringt bei übergewichtigen Patienten eine Gewichtsreduktion deutliche Linderung, da der Beckenboden hierdurch entlastet wird. In leichten Fällen ist Beckenbodentraining die erste Wahl und kann durch verschiedene Methoden wie Elektrostimulation, Biofeedback-Verfahren oder Vibrationstraining ergänzt werden. Auch der Einsatz von speziellen Vaginalkonen, Pessaren oder Tampons sind mögliche weiterführende Maßnahmen, um die Beckenbodenmuskulatur zu trainieren. Darüber hinaus können, neben einer medikamentösen Therapie, auch operative Wiederherstellungen der Beckenbodenund Harnröhrenfunktion durchgeführt werden, wobei bei Frauen ein spannungsfreies Band (TVT, tension-free vaginaltape) unter die Harnröhre gelegt wird. Bei schweren Inkontinenzformen ist der Einsatz eines künstlichen Schließmuskels am erfolgversprechendsten.
 
Dranginkontinenz
Bei der Dranginkontinenz, auch als Urgeinkontinenz bezeichnet, handelt es sich um eine Blasenspeicherungsstörung. Hierbei ist zwar der Blasenschließmuskel intakt, reagiert jedoch zu empfindlich. In Folge dessen kommt es bereits bei kleineren Füllmengen der Blase zu Kontraktionen des Blasenmuskels und damit zu plötzlichem unwillkürlichen Harnabgang. Typisch ist der häufige starke (auch nächtliche) Harndrang mit Urinverlust. Oftmals liegt eine akute oder chronische Zystitis oder Harnleiter- und Blasensteine zu Grunde, welche zunächst behandelt werden müssen. Hinter den Symptomen können jedoch auch Tumore oder neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Morbus Parkinson stecken. Die reine Dranginkontinenz ist gut und erfolgreich behandelbar.
Es ist wichtig, dass die Patienten dem Harndrang nachgeben, da durch Hinauszögern eine andauernde Inkontinenz anerzogen werden kann. Darüber hinaus sollte die Blase unabhängig vom Dranggefühl zu festen Zeiten entleert werden. Die Abstände hierfür sollten dann nach und nach vergrößert werden. Hilfreich ist das Führen eines Miktionsprotokolls, in dem über einige Tage Uhrzeit und Trinkmenge sowie Harnmenge, Harndrang und Urinverlust festgehalten werden. Die Dokumentation hilft den Betroffenen, sich die eigenen Toilettengewohnheiten bewusster zu machen. Wenngleich der Blasenschließmuskel bei dieser Form der Inkontinenz intakt ist, unterstützt auch hier regelmäßiges Beckenbodentraining dabei, den Harndrang besser zu kontrollieren. Neben der medikamentösen Therapie und lokalen Östrogenen, kann auch Botulinum-A-Toxin im Rahmen einer Blasenspiegelung in den Blasenmuskel injiziert werden. Die Dranginkontinenz ist die zweithäufigste Form der Inkontinenz bei Frauen. Bei etwa 20 bis 40 % der Fälle tritt eine Mischform aus Belastungs- und Dranginkontinenz auf. Bei ausgewogenem Beschwerdebild, steht die Therapie der Dranginkontinenz im Vordergrund.
 
Reflexinkontinenz
Bei einer Reflexinkontinenz liegt eine Fehlbildung oder Verletzung von Nervenbahnen vor. Dadurch ist die Übertragung der Nervenimpulse aus dem Gehirn zur Steuerung der Blasenmuskulatur gestört, die Blasenmuskulatur kontrahiert sich ungehemmt und führt zu unwillentlichem Urinabgang. Diese Inkontinenzform kommt beispielsweise bei Patienten mit Querschnittslähmung, schwerem Bandscheibenvorfall oder Spina bifida vor.
 
Überlaufinkontinenz
Bei der Überlaufinkontinenz kommt es in Folge einer Abflussbehinderung trotz maximal gefüllter und gedehnter Blase nur zum Abgang kleinerer Mengen Urin. Dadurch verbleiben große Mengen an Restharn in der Blase und das Wasserlassen ist nur noch mit starker Anspannung des Blasenmuskels möglich, welcher auf Dauer seine Kontraktionsfähigkeit verliert. Durch den hohen Druck in der Blase und die Überdehnung kommt es häufig zu einem Rückstau in den Harnleiter und in das Nierenbecken mit der Gefahr einer Niereninsuffizienz. Diese Inkontinenzform betrifft häufig ältere Männer und meist liegt eine benigne Prostatahyperplasie zugrunde, in seltenen Fällen auch Tumoren der Harnröhre oder Harnblase. Weiterer Auslöser können auch Nervenschädigungen bei Diabetes sein.
 
Inkontinenzprodukte
Begleitend zur Therapie stehen den Betroffenen eine breite Palette an Inkontinenz- Produkten zur Verfügung. Dabei unterscheidet man diverse Hilfsmittelarten, die je nach Schwere der Inkontinenz eingesetzt werden. Bei den aufsaugenden Hilfsmitteln befinden sich Produkte mit speziellen geruchsabsorbierenden Eigenschaften wie Einlagen, Vorlagen, Netzhosen und Windelhosen, aber auch körperferne Produkte wie Krankenunterlagen auf dem Markt. Als Ableitungs- und Auffang-Systeme können Kondom-Urinale, Inkontinenztampons etc. zum Einsatz kommen. In schwereren Fällen werden Katheter eingesetzt.
 
Präventive Maßnahmen
• Präventives Beckenbodentraining, vor allem für Frauen nach der Geburt
Übergewicht vermeiden und ggf. Gewicht reduzieren, um den Blasenmuskel zu entlasten
• Ballaststoffreiche Ernährung erzielt einen regelmäßigen Stuhlgang ohne Pressen und entlastet dadurch den Schließmuskel
• Blase trainieren, Abstände vergrößern und nicht dem ersten Drang nachgeben
• Viel trinken, denn Flüssigkeitsmangel führt zu konzentriertem Urin, welcher den Blasenmuskel reizt
Quelle: Daniela Mackert: Apothekerin, Medizinjournalistin und Fachredakteurin mackert@gfi-online.de
ICD-Codes: N39.4

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