Rationale Diagnostik

Praxis-Depesche 4/2017

Unterschenkelschmerzen bei Belastung

Belastungsabhängige Schmerzen im Bereich des Unterschenkels sind in der Praxis ein häufiges Symptom. In einer Übersichtsarbeit wurde nun zusammengetragen, auf welche Zeichen man diagnostisch achten sollte, um schnell und rational zur geeigneten Therapie zu kommen – ggf. ohne aufwändige apparative Untersuchungen.

Belastungsabhängige Unterschenkelschmerzen (exertional leg pain, ELP) sind definiert als Schmerzen, die während oder nach Belastung des Beines bzw. Sport im Bereich zwischen Knie und Sprunggelenk auftreten. Die Ursachen können u. a. muskuloskeletaler Art sein, aber auch vaskulärer oder neurologischer. Die wichtigsten Maßnahmen zur Diagnostik sind eine genaue Anamnese, insbesondere zur Art der schmerzverursachenden Belastung und zu sportlichen Aktivitäten. Danach folgt die symptombezogene körperliche Untersuchung. Wenn dann die Diagnose noch nicht verlässlich gestellt werden kann, kommen technische Unter suchung sver fahren wie Röntgen, MRT, Angiographie oder Elektromyographie zum Einsatz.
 
Tibiakantensyndrom
 
Das mediale Tibiakantensyndrom (medial tibial stress syndrome, MTSS, auch Shin Splint) ist im wesentlichen eine Insertionstendopathie mit Periostitis. Typischerweise ist der Schmerz im Bereich der posteriomedialen distalen Tibia lokalisiert und tritt während der körperlichen Belastung auf. In schwereren Fällen kann er auch über die Belastungszeit hinaus andauern. Selten kommt es zur lokalen Schwellung.
6 bis 16% aller Verletzungen bzw. Beschwerden von Läufern sind MTSS. Wichtige prädisponierende Faktoren sind ein hoher BMI, weibliches Geschlecht, exzessive Innen- und Außenrotation der Hüfte, Hyerpronation und plantare Hyperflexion. Eine Röntgenaufnahme des Beines benötigt man nur, wenn andere Ursachen wie Ermüdungsfraktur oder Tumor nicht ausgeschlossen werden können, denn das Röntgenbild bei MTSS ist üblicherweise unauffällig. Im MRT sieht man oft die periostale Reaktion und Knochenödeme.
Therapeutisch kommt es vor allem auf Schonung an, darüber hinaus kommen Eis und NSAR zum Einsatz. Weitere konservative Maßnahmen sind Dehnung der Wadenmuskulatur, Orthesen zur Hyperpronationskorrektur und eine Modifikation der durchgeführten Aktivität des Sports. Nur selten bedarf es eines operativen Eingriffs, der eine posteriormediale Fasziotomie, Entlastung der medialen Soleus -Faszienverbindung, eine tiefe Kompartment- Fasziotomie oder die Entfernung eines Teils der Tibia-Periosts sein kann.
 
Ermüdungsfraktur
 
Wiederholte Belastungen können in Mikrotraumata resultieren, die meistens die Tibia betreffen. Der Symptombeginn ist dabei eher schleichend und betrifft ein spezifisches Knochenareal – Schwellung und Hauterythem können die Schmerzen begleiten, die typischerweise durch Belastung reproduzierbar sind und sich in Ruhe bessern. Hüpfen auf einem Bein löst den Schmerz typischerweise präzise aus.
Für Ermüdungsfrakturen (stress fracture) ist eine typische anamnestische Konstellation aus drei Faktoren beschrieben („female athlete triad“): 1. Amenorrhoe, 2. niedrige Knochendichte, 3. Ernährungsdefizit. Bei der Kombination dieser Faktoren mit Beinschmerzen sollte man besonders an eine entsprechende Fraktur denken.
Meistens kann die Diagnose klinisch gestellt werden; die Bildgebung hat dann nur noch bestätigenden Charakter. Im Röntgenbild werden ohnehin erst zwei bis acht Wochen nach Symptombeginn Veränderungen sichtbar. Bei unauffälligem Röntgenbild kann ein MRT weitere Informationen liefern.
Die Behandlung ist meist konservativ: Vermeidung von Belastung für zwei bis vier Wochen, Änderung der Aktivitäten, Korrektur des Ernährungsdefizites (z. B. ausreichende Kalorien-, Kalzium- und Eisenzufuhr), Optimierung des Schuhwerkes und Achten auf eine weiche Laufoberfläche beim Joggen. Liegt die Fraktur im Bereich der anterioren Tibia (im Vergleich zu posterio-medial), ist ein eher rigides Therapieschema angezeigt, denn diese Frakturen neigen häufiger zur Nicht-Heilung (Entlastung für mindestens acht Wochen, Schiene, ggf. chirurgische Intervention).
 
Kompartmentsyndrom
 
14 bis 27% aller erstmals bei Belastung und Sport auftretenden Unterschenkelschmerzen sind auf ein Kompartmentsyndrom zurückzuführen (chronic exertional compartment syndrome, CECS). Meistens ist das anteriore Kompartment des Unterschenkels betroffen. Die Symptome treten dabei in 60 bis 95% der Fälle bilateral auf. Ätiologische Faktoren können u. a. Muskelschwellung, Faszienverdickung, Muskelhypertrophie durch Widerstandstraining oder eine geringe kapilläre Versorgung der Muskeln sein. Der Schmerz tritt oft „vorhersagbar“ auf, z. B. immer zur gleichen Zeit, nach der gleichen Laufdistanz oder bei vergleichbarer Trainingsintensität. In Ruhe werden die Beschwerden schnell besser – neben Schmerzen kann es zum Taubheitsgefühl oder zu Muskelschwäche kommen. In fortgeschrittenen Stadien können sich die Beschwerden von der Sportaktivität auf alltägliche Situationen ausdehnen, oder sogar in Ruhe auftreten.
Diagnostisch ist die invasive Messung des Kompartmentdruckes vor und nach der körperlichen Aktivität der Goldstandard. Werte ≥15 mmHg prä- und ≥30 mmHg post-Belastung sind diagnostisch wegweisend. Da das CECS meistens bilateral auftritt, reicht manchen Ärzten auch die Druckmessung an einem Bein und nur nach Belastung. Sowohl konventionelles Röntgen als auch MRT zeigen häufig keine Auffälligkeiten. Dennoch kann ein T2-gewichtetes MRT nach dem Sport manchmal ein Muskelödem als Marker für den erhöhten Kompartmentdruck zeigen.
Die Aktivität zu unterbrechen oder zu modifizieren führt zwar zur Symptombesserung, ist aber häufig keine dauerhafte Lösung. Die definitive Behandlung besteht in der chirurgischen Kompartmententlastung mittels Fasziotomie. Die Erfolgsraten sind dabei – besonders beim anterioren Kompartment – hoch.
 
Vaskuläre Ursachen
 
Durch wiederholte Hüftflexionen wie z. B. beim Radfahren, Laufen, Skifahren oder Fußball kann es zu einem fibrotischen Umbau der Arterienintima kommen und damit zur arteriellen Endofibrose. Das führt zu einer meistens unilateralen Stenose, häufig der A. iliaca externa. Symptome sind ein Kraftverlust im betroffenen Bein und eine intermittierende Claudicatio. Es können aber auch Krämpfe der Glutealmuskulatur oder Parästhesien auftreten. Nach dem Sport kann man manchmal auskultatorisch ein Strömungsgeräusch über der Femoralarterie bei gebeugter Hüfte ausmachen. Ein weiterer diagnostischer Test ist die Bestimmung des ABI; liegt dieser vor der Belastung <0,5 und eine Minute danach <0,66, ist das hinweisend auf eine arterielle Fibrose. Sono, Doppler und MR-Angio können die Diagnose bestätigen.
Therapeutisch kommen Angioplastie, Stenting, Bypass-Operationen oder eine Endarteriektomie mit Venenpatch infrage.
Ein poplietales Entrapment-Syndrom (PAES) entsteht, wenn die A. poplitea bei ihrem Durchtritt durch die Fossa poplitea komprimiert wird. Ursache kann eine Variante des M. gastrocnemius sein, aber auch akute Traumata. Besonders häufig betroffen sind Fußballer, Basketballer und Läufer unter 30 Jahre. Die Symptome leiten sich von der Ischämie des Unterschenkels ab, die beim Sport auftreten und nach der Belastung schnell wieder zurückgehen. Die Symptome korrelieren mehr mit der Intensität als mit der Sportdauer.
In der Fossa poplitea kann man nach der Anstrengung manchmal ein Strömungsgeräusch auskultieren, und die peripheren Pulse können abgeschwächt sein. Den ABI bestimmt man am besten in Neutralstellung, bei forcierter Dorsalflexion und bei Plantarflexion. Üblicherweise benötigt man aber auch eine Angiographie zur klaren Diagnose (ggf. kann mittels MRT zwischen anatomischem und funktionellem Entrapment unterschieden werden).
Therapeutisch reseziert man die kompromittierenden Strukturen oder legt einen arteriellen Bypass an. Konservative Maßnahmen sind wenig effektiv.
Bei der zystischen Adventitiadegeneration wird die arterielle Strombahn durch mukoide Zysten in der Adventitia eingeengt. Sie ist selten und macht nur 0,1% aller vaskulären Erkrankungen aus. Am häufigsten sind Männer um die 40 Jahre betroffen. Typisch ist eine intermittierende Claudicatio bei Belastung. In der Duplex-Sonographie kann man manchmal die mukoiden Zysten in der Adventitia darstellen. Zur Therapie gibt es kaum evidenzbasierte Daten. Man kann eine Zystenaspiration versuchen, sie rezidivieren aber häufig. Meistens müssen die Zysten chirurgisch saniert werden.
 
Neurologische Ursachen
 
Eine Spinalkanalstenose kann kongenitale, traumatische oder – was am häufigsten vorkommt – degenerative Ursachen haben. Daher kommt sie auch meistens bei Männern und Frauen zwischen 50 und 70 Jahren vor. Die unilateralen oder bilateralen Schmerzen bessern sich beim Sitzen oder bei Flexion der Wirbelsäule. Es kann auch zu bilateralen Taubheitsgefühlen oder Kribbelparästhesien kommen, die vom Glutealbereich bis in die Beine ausstrahlen. Diagnostisch kommen die röntgenologische Untersuchung der LWS und das MRT zum Einsatz. Das CT-Myelogramm gilt als weniger sensitiv in der akuten Phase, aber nützlich in der Verlaufskontrolle. Zur initialen Therapie kann man Physio und NSAR einsetzen; wenn konservative Maßnahmen nicht ausreichen, können epidurale oder Nervenwurzelinjektionen mit Kortikosteroiden helfen, oder schlussendlich die chirurgische Dekompression oder Laminektomie.
Nervenkompressionssyndrome sind selten Ursache von Unterschenkelschmerzen bei Belastung. Wenn, dann ist der N. fibularis superficialis am häufigsten betroffen (Austrittsstelle aus der tiefen Faszie im lateralen Kompartment im unteren Beindrittel). Ursachen können Traumata, aber auch chronische Überbelastung z. B. beim Tanzen, Fußball oder Tennis sein. Selterner sind N. fibularis communis, N. saphenus, N. tibialis posterior oder N. suralis betroffen. Repetitive Inversion und Eversion, wie beim Laufen oder Fahrradfahren, oder wiederholte Knieflexionen beim Rudern oder Radfahren, können zu entsprechenden Einklemmsymptomen führen. Der N. suralis ist manchmal speziell vom Laufen in Mitleidenschaft gezogen. Die Symptome (Brennen, Kribbeln, Ausstrahlung beim Sport) werden bei andauernder Belastung schlimmer. Zur Diagnose kommen Elektromyographie und die Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit zum Einsatz, die aber erst drei bis vier Wochen nach Symptombeginn aussagekräftig sein können. Nur in Fällen, die mit Aktivitätsmodifizierung, Krankengymnastik, Massagen oder NSAR nicht beherrscht werden können, muss man den betroffenen Nerv chirurgisch dekomprimieren. CB
Quelle:

Becker JA et al.: A step-wise approach to exertional leg pain. J Fam Pract 2016; 65: 672-9

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