Auf in den Kampf mit der Hörhilfe

Praxis-Depesche 10/2012

Wer schlecht hört, will das oft nicht wahrhaben

Der derzeitige Präsident der American Geriatrics Society arbeitet an der Universität von Minnesota im Department of Family Medicine and Community Health. Sein Koautor leitet die HNO-Abteilung. Beide zeigen am Beispiel einer 75-jährigen Dame, dass es oft nicht leicht ist, ein Hörgerät zu akzeptieren und es optimal zu nutzen. Vor der Überzeugungsarbeit steht die Diagnose Presbyakusis. Der Weg dahin sei hier erklärt.

Von Hörverlust betroffen waren in einer Erhebung in den USA 63% der Personen ab 70 Jahren, in 27% mäßig oder schwer. Trotz hoher Prävalenz wird er oft von Patienten und Klinikern nicht erkannt und er wird zu wenig behandelt. Die Folgen können beträchtlich sein, denn Hörverlust ist assoziiert mit sozialer Isolation, Abnahme der Funktionsfähigkeit, schlechter Lebensqualität, depressiven Symptomen und kognitiven Defiziten. Den Schweregrad geben Hörschwellen in dB an. Die Einteilung erfolgt üblicherweise in sensorineural, konduktiv oder gemischt. Der sensorineurale Typ kann über Jahre (z. B. lärminduziert), über Wochen bis Monate (z. B. durch Arzneimittel) oder über Stunden bis Tage entstehen (letzteres bei Innenohrstörungen wie Morbus Menière oder Labyrinthitis). Zu den Hauptursachen von konduktivem Hörverlust bei älteren Menschen zählen Zerumenpfropf, Otosklerose und Otitis media.

Presbyakusis oder Altersschwerhörigkeit, ein multifaktorieller sensorineuraler Hörverlust, betrifft initial hohe Frequenzen und verschlechtert sich über Jahrzehnte bei Personen über 50 Jahren. Außer mit dem Alter ist sie stark mit Lärmexposition assoziiert. Oft begleitet sie als Komponente auch eine Störung der zentralen auditorischen Verarbeitung, die die Spracherkennung weiter erschwert (Prävalenz ab 80 Jahren bis zu 95%).

Entdeckt werden kann ein Hörverlust durch Anamnese oder Screening (siehe Kasten). Zwar gibt es relativ wenige Daten zur positiven Wirkung von Screening, doch rechtfertigen Häufigkeit des Problems, Nichterkennen und Abhilfemöglichkeiten den Einsatz bei älteren Personen. Obwohl dies nicht formal untersucht wurde, ist es wahrscheinlich genauso wichtig, wenn nicht wichtiger, ein Familienmitglied oder einen Betreuer zum Ausmaß des Hörverlustes eines Patienten und zu dessen Funktionsfähigkeit zu befragen wie ihn selbst. Bei der Anamnese kann auf Hörfähigkeit und Sprachverständnis geachtet werden, besonders wenn man sich nicht direkt gegenübersteht. Ins Ohr zu schauen ist unerlässlich (u. a. um ggf. Zerumen zu entdecken).

Audiometrie bei Verdacht

Jeder Patient mit Hörverlust oder Verdacht darauf braucht eine Audiometrie (in den USA geht er zum „Audiologist“, der studiert hat). Dabei werden Hörschwellen reiner Töne von 250 bis 8000 Hz ermittelt. Dazu gehören auch Tests von Worterkennung und Schallleitung im Knochen, akustische Reflexe, um Anomalien der Gehörknöchelchen zu erkennen, und Tympanometrie zur Mittelohr-Beurteilung. Zum HNO-Arzt überwiesen wird in den USA, wenn ein Trauma zum Hörverlust geführt hat, bei Trommelfellperforation, andauerndem und reichlichem Ausfluss aus dem Ohr, Hörverlust assoziiert mit schwerem Schwindel oder bei Zeichen schwerer Infektion. Sofort von ihm untersucht werden müssen Personen mit plötzlichem Hörverlust, um permanente Schäden zu minimieren. Überweisungen sind auch indiziert bei wesentlicher Asymmetrie im Audiogramm oder bei abnormen Hörtest-Ergebnissen ohne offenkundige Erklärung.

Weitere Kapitel der Übersicht befassen sich mit Kommunikation mit Schwerhörigen, Einsatz von Hörgeräten und besonderen Herausforderungen von Hörverlust und Geriatrie. SN

Kommentar
Hörverlust: Entdeckung und erste Abklärung
Anamnese: Einzelfrage: Würden Sie sa-
gen, Sie haben Hörschwierigkeiten? Spü-
ren Sie, dass Sie einen Hörverlust haben?
Fragebogen: Hearing Handicap Inventory
for the Elderly – Screening Version*,
Be-
richte von Patient, Familie, Betreuer:
Ver-
wirrung in sozialen Situationen, Unfähig-
keit, Sprache zu verstehen, besonders in
lauter Umgebung, übermäßige Lautstärke
von Fernseher, Radio oder Computer, sozia-
ler Rückzug, Ängstlichkeit in Gruppensitua-
tionen.
Zusatzanamnese bei Hörverlust
oder Verdacht darauf:
Zeitverlauf des Hör-
verlusts, Symptome von Tinnitus, Ohr-
schmerz, Otorrhö oder Schwindel, Lärmex-
position in der Anamnese, Ohrtrauma oder
Schädeltrauma, Vorliegen eines neurologi-
schen Defizits

Untersuchung und Zusatztests:
Hörtests
(jedes Ohr einzeln testen):
Flüstertest in ca.
61 cm Entfernung: positiv, wenn nicht min-
destens drei von sechs Buchstaben-Zahlen-
Kombinationen wiederholt werden, Fin-
gerreiben oder Uhrticken jeweils in ca. 15
cm Abstand, positiv, wenn das Geräusch
zwei- oder mehrmals bei sechs Versuchen
nicht identifiziert wird,
Weber- und Rinne-
Tests
(nicht zum Screening, aber in puncto
Ätiologie hilfreich),
Ohr-Untersuchung: Ze-
rumen-Check, Pathologie von äußerem und
Mittelohr,
kognitives Screening, wenn positiv
MSE (mental status examination),
Testung auf
affektive Störungen:
auf Depression und
Angst durchführen, wenn Vermeidung, Rückzug
oder Ängstlichkeit in sozialen Situationen in der
Anamnese,
Bildgebung des Schädels erwägen bei
grob asymmetrischem Hörverlust
Audiometrische Testung: Test mit Hand-
gerät, „handheld audioscope“ genannt,
formelle Audiometrie beim Fachmann
*http://www.audrehab.org/hhie.htm 
Quelle: Pacala JT et al.: Hearing deficits in the older patient: "I didn't notice anything", Zeitschrift: JAMA : THE JOURNAL OF THE AMERICAN MEDICAL ASSOCIATION, Ausgabe 307 (2012), Seiten: 1185-1194
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