Adipositas im verhaltenstheoretischen Fokus

Praxis-Depesche 11/2016

Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle

Sowohl appetitive Eigenschaften als auch allgemeine Temperamentszüge korrelieren bei Kindern mit Adipositas und Fettleibigkeit. Jedoch wurde diese Verbindung bis jetzt in nur wenigen Studien untersucht. Ein validiertes Strukturmodell sollte nun dabei helfen zu erklären, wie Temperament und BMI zusammenhängen.

INFO

Rothbart betrachtet Temperament als biologisch verankerte Grundausstattung, die sich aufgrund von Reifungsprozessen und Umwelteinflüssen weiter entwickelt. Temperament wird als Manifestation konstitutioneller und relativ stabiler Unterschiede in den Variablen Reaktivität und Selbstregulation gesehen. Das anteriore Aufmerksamkeitssystem, lokalisiert im frontalen Kortex, entwickelt sich als drittes System ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres bis ins Vorschulalter hinein. Es kann komplexere Reize verarbeiten, umfasst willentliche Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle, englisch „Effortful Control“, und reguliert so das posteriore Aufmerksamkeitssystem. Die Effortful Control ermöglicht die Hemmung einer dominanten Verhaltenstendenz zugunsten eines weniger dominanten Verhaltens.

In dieser Querschnittsstudie diente die heuristische Definition des Temperaments von Rothbart zur Bestimmung von vier appetitiven Eigenschaften, nämlich zwei reaktiven Bereichen (Wecken und Anhalten von Appetit) und zwei Selbstregulierungsprozessen aus dem Bereich Essen (Selbstregulierung bzgl. des Essens in Abwesenheit von Hunger und bzgl. der Essgeschwindigkeit, siehe INFO-Kasten).
Aufgenommen wurden 475 Jugendliche zwischen zehn und 14 Jahren. Ziel war die Validierung eines Strukturmodells, das diese vier appetitiven Eigenschaften, die willentliche Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle („Effortful Control“) und Adipositas beinhaltet. Die folgenden Forschungshypothesen wurden aufgestellt:
1. Effortful Control beeinflusst positiv die Selbstregulierung bzgl. des Essens, indem es sich auf die Selbstregulierung bzgl. des Essens in Abwesenheit von Hunger und bzgl. der Essgeschwindigkeit auswirkt.
2. Selbstregulierung bzgl. des Essens beeinflusst die Reaktion auf Appetit negativ: Selbstregulierung bzgl. Essens in Abwesenheit von Hunger ist mit Auslösen von Appetit verlinkt, und die Selbstregulation bzgl. der Essgeschwindigkeit ist verbunden mit der Appetitdauer, die wiederum mit dem Auslösen von Appetit korrliert.
3. Alle vier appetitiven Eigenschaften (siehe oben) sind mit Adipositas verbunden. Von den 475 Studienteilnehmern waren 74% normal- und 26% übergewichtig, 8% waren adipös. Die Forschergruppe fand ein gut passendes Strukturmodell, das folgende Hypothese unterstützte: Die Effortful Control beeinflusst beide Dimensionen der Selbstregulierung des Essverhaltens, die wiederum mit den beiden reaktiven Dimensionen verbunden sind. Im Gegensatz zu den anfangs aufgestellten Hypothesen erwies sich der anhaltende Appetit aber als einzige appetitive Eigenschaft, die signifikant mit Adipositas verbunden war (p < 0,05).
Deshalb wurde ein zweites Strukturmodell getestet, in dem nur die Dauer des Appetits direkt die Adipositas beeinflusst, und in dem sich das Auslösen (Wecken) von Appetit auf die Appetitdauer auswirkt, nicht jedoch umgekehrt. Im Vergleich mit dem ersten Modell waren hier nun alle untersuchten Verbindungen signifikant. Die Validierung des Modells unterstreicht die Annahmen, dass
1. Effortful Control signifikant die Selbstregulierung bzgl. Essgeschwindigkeit und Essen in Abwesenheit von Hunger beeinflusst, wobei letztere Verbindung stärker ausgeprägt ist;
2. Selbstregulierung bzgl. Essen in Abwesenheit von Hunger einen starken Effekt auf das Wecken von Appetit hat und die Selbstregulierung bzgl. Essgeschwindigkeit die Appetitdauer negativ beeinflusst;
3. Appetitdauer die Adipositas moderat aber signifikant positiv beeinflusst, während das Wecken von Appetit, die Selbstregulierung bzgl. Essen ohne Hunger und bzgl. Essgeschwindigkeit nur indirekt mit der Adipositas verknüpft sind.
Die Studienergebnisse deuten darauf hin, dass junge Heranwachsende mit einer hohen Appetitreaktivität bei einer nur geringen Selbstregulierung bzgl. des Essens ein höheres Risiko für eine ausgeprägte Adipositas aufweisen. GS

Quelle:

Godefroy V: Modelling the effect of temperament on BMI through appetite reactivity and self-regulation in eating: a structural equation modelling approach in young adolescents. Int J Obesity 2016; 40: 573-80

ICD-Codes: E66.8-

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