Mensch mit Hörgerät

Ein Ohr für Hörgeschädigte

Praxis-Depesche 5/2022

Die „unsichtbare Behinderung“

Nach Schätzungen sind fast 1,6 Milliarden Menschen hörgeschädigt – das entspricht etwa einem Fünftel der Weltbevölkerung. Obwohl die Prävalenz weiter ansteigen soll, läuft Schwerhörigkeit oft noch unter dem Radar von Ärzt:innen und der Politik. Drei Vorschläge für ein hörbehindertengerechteres Gesundheitssystem.
Beim Thema Schwerhörigkeit ist oft die Rede von der „unsichtbaren Behinderung“, schrieb die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vergangenes Jahr in ihrem „World Report on Hearing“. Grund sei nicht nur das Fehlen sichtbarer Symptome. Noch immer werden Betroffene durch Zuschreibungen wie „alt“ oder „geistig behindert“ stigmatisiert und deren Interessen von politischen Entscheidungsträgern wenig beachtet.
Obwohl ein Hörverlust die dritthäufigste Ursache für eine Behinderung ist, bleibt er meist lange unerkannt. Bis zur Diagnosestellung vergehen im Schnitt sieben Jahre. Vor allem in einkommensstarken Ländern wurden die bekannten Risikofaktoren für Gehörschäden durch entsprechende Präventivmaßnahmen angegangen, etwa durch eine optimierte pränatale Betreuung oder die Bereitstellung von Impfungen. Der Hauptursache, nämlich der meist freiwilligen Exposition gegenüber lauten Geräuschen (z. B. Musik), ist aber nur schwer beizukommen.
Die oft späte Diagnose ist besonders dramatisch, weil Schwerhörigkeit durch Hör-Assistenz-Technologien wie Mittelohr- und Cochleaimplantante oder Hörgeräte gut behandelbar ist. Maßnahmen zur Therapie von Hörschwierigkeiten sind sogar äußerst wirtschaftlich: Eine von der WHO geförderte Studie ergab, dass jeder investierte Dollar einen Gewinn von fast 15 Dollar abwirft, was hauptsächlich auf eine bessere Gesundheit und eine höhere Produktivität der Betroffenen zurückzuführen ist.
Welche Möglichkeiten gibt es also, um die Zivilisationskrankheit Schwerhörigkeit mehr in den Fokus von Medizin und Öffentlichkeit zu rücken? Anlässlich des vergangenen Welttages des Hörens am 3. März schlugen Marcello Tonelli, Professor an der University of Calgary in Kanada, und Dr. Ruth Warick von der Nichtregierungsorganisation „International Federation of Hard of Hearing Persons“ die folgenden Maßnahmen vor:
  • Im Gegensatz zu anderen chronischen Erkrankungen fehlt in den meisten Gesundheitssystemen eine koordinierte Strategie für die Versorgung Schwerhöriger. Eine nationale Kampagne könnte dazu beitragen, das Bewusstsein zu schärfen, das Stigma zu reduzieren und die Krankheitsprävention und -überwachung zu verbessern.
  • Das Gesundheitswesen sollte besser auf die Bedürfnisse von Schwerhörigen zugeschnitten werden (z. B. durch Ärzteschulungen zur Kommunikation mit Hörgeschädigten, mehr verfügbare Gebärdensprachdolmetscher und Untertitel sowie ruhige Aufenthaltsorte, um Hintergrundgeräusche während des Klinikbesuchs zu reduzieren).
  • Die Bereitstellung höherer Summen an Forschungsgeldern. Die aktuellen Beträge stehen in keinem Verhältnis zur hohen Prävalenz von Schwer- und Gehörlosigkeit sowie deren Folgen für die Lebensqualität der Betroffenen. RG
Quelle: Tonelli M, Warick R: Focusing on the needs of people with hearing loss during the COVID-19 pandemic and beyond. JAMA 2022; 327(12): 1129-30
ICD-Codes: H90.0
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